Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Die Angst der Nordiren vor dem Brexit
In Nordirland fürchtet man, mehr als nur Wirtschaftskraft zu verlieren. Auf dem Spiel steht auch der Frieden.
BALLYMENA In diesem Klassenzimmer wäre das Referendum vom vergangenen Sommer unentschieden ausgegangen. Geschichtslehrer Patrick Scullion sitzt mit einigen Oberstufenschülern der Ballymena Academy zusammen. Hätten die sechs damals über den Brexit abstimmen dürfen, dann hätten drei von ihnen für „Leave“gestimmt, drei für „Remain“. Warum? „Langfristig werden wir wirtschaftliche Vorteile haben“, sagt Cameron, der für den Ausstieg gestimmt hätte. Alex findet, die EU habe zu viel Macht. Harry glaubt, die Farmer werden auch ohne Subventionen zurechtkommen. Shonagh dagegen hätte für „Remain“gestimmt, sie macht sich Sorgen um die Menschenrechte in Großbritannien. Rose mag Freizügigkeit. Und Melissa glaubt, dass Nordirlands Gesellschaft weniger bunt und vielfältig werden wird nach dem Brexit.
Das Thema hat insbesondere in Nordirland Brisanz. Dort verläuft – abgesehen von Gibraltar – die einzige Landgrenze zwischen Vereinigtem Königreich und Europäischer Union. Und es ist eine Grenze mit besonderer Bedeutung, sagt Patrick Scullion.
Der junge Lehrer für alte Geschichte ist bekennender Europäer. Seine Frau ist Spanierin, seine Kinder haben den Doppelpass. „Am Tag des Referendums hatten meine Frau und ich das Gefühl, einen lieben Menschen verloren zu haben. Wir haben richtig getrauert“, erzählt er. Für ihn sei die EU immer eine Chance für das wirtschaftlich unterentwickelte, politisch gespaltene Nordirland gewesen. „Die irische Trikolore oder der Union Jack – das sind hier Flaggen, die die Menschen voneinander trennen. Hinter dem EU-Banner hätten wir uns hingegen alle versammeln können“, sagt er.
Nun fürchtet er, dass es nach dem Brexit stattdessen neue Zollund Passkontrollen geben könnte. Ein hartes Grenzregime. „Das werden einige Radikale als Symbole britischer Herrschaft verstehen. Dann wird es Anschläge geben – und diese Anschläge werden Reaktionen hervorrufen. Und schon sind wir wieder zurück in einer Situation wie während des Nordirlandkonflikts.“
Damals wurde die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland im Süden zeitweilig von der britischen Armee bewacht. Heute ist freier Grenzverkehr zwischen Norden und Süden problemlos möglich. Mehr als 30.000 Menschen pendeln Schätzungen zufolge täglich über die offene Grenze. Sie gibt irisch-nationalistischen Republikanern das Gefühl, de facto doch in einem vereinigten Irland zu leben. Und sie ist ein Wirtschaftsfaktor: Handwerker, Architekten und andere Kleinunternehmer verlassen sich längst auf den Markt in der Republik Irland. Nordirland verkauft Milch und Fleisch in den Süden. Und viele Produktionsketten verlaufen quer über die Grenze. Guinness beispielsweise wird in Dublin gebraut, aber in Belfast abgefüllt. Das würde sich kaum lohnen, wenn bei jedem Transport Zölle anfielen.
Frieden und Wohlstand nach dem Brexit – das sind die beiden Themen, die die Nordiren bewegen. Der Wahlkampf drehte sich deshalb um die Frage, welche Abgeordneten in London für einen „special status“Nordirlands werben würden. Ganz vorne dabei: Sinn Féin, historisch hervorgegangen aus der IRA und klar irisch-nationalistisch. Die Partei fordert, dass Nordirland seinen Zugang zum EU-Binnenmarkt und die Reisefreiheit in den Süden be- hält. Im Grunde also, dass Nordirland vom Brexit ausgeklammert wird.
Sinn Féin hat in der Parlamentswahl drei Sitze gewonnen, aber das spielt keine Rolle: Die jetzt sieben Abgeordneten der Partei werden nicht an Debatten und Abstimmungen in Westminster teilnehmen, weil sie sich traditionell weigern, der Königin den dazu erforderlichen Treueeid zu schwören.
Große Gewinnerin der Wahl aus nordirischer Sicht ist damit die Democratic Nationalist Party (DUP), traditionelle Gegnerin von Sinn Féin: eine rechtskonservative, populistische Partei, die für eine enge Bindung Nordirlands an die englische Krone eintritt. Sie hat zwei Sitze dazugewonnen und wird mit ihren zehn Abgeordneten Theresa Mays Conservative Party höchstwahrschein- lich über die Mehrheitsgrenze bringen. Dafür will die DUP vor allem eins: das Versprechen, dass es ganz bestimmt keinen „special status“für Nordirland geben wird.
Nigel Dodds, Fraktionschef der DUP in Westminster, hält ein nordirisches Spezial-Abkommen zum Brexit schlicht für „Nonsens“. Die Partei ist zwar für einen Brexit, der der speziellen Geschichte und Geografie Nordirlands Rechnung trägt. Was das genau bedeutet, hat die DUP aber nie konkret gesagt.
Was wäre wünschenswert für Nordirland? Weiterhin Reisefreiheit und möglichst wenig Probleme beim Warenverkehr, sagt John Campbell, Wirtschaftskorrespondent von BBC Northern Ireland. „Ideal wären Null-Prozent-Zölle, aber die wird es bei Agrarprodukten nicht geben“, glaubt er. Und
David Phinnemore gerade die sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor im ländlichen Nordirland. Ein Stück weit werde das Land vielleicht profitieren, weil die Republik Irland nach dem Brexit weniger nach Großbritannien exportieren wird. Dann könnte der Norden einspringen. Doch das werde nicht alle wirtschaftlichen Löcher stopfen, die der Brexit reißen wird.
Andere sind da optimistischer. Bob Stoker zum Beispiel. Als stellvertretender Ukip-Vorsitzender in Nordirland ist er überzeugter Brexit-Befürworter und glaubt, Nordirland werde vom Austritt sogar profitieren: Die großen Summen, die Großbritannien bisher an die EU zahlt – etwa 23 Millionen Pfund oder 26,5 Millionen Euro am Tag nach Berechnungen seriöser Medien – sollen nach dem Brexit endlich der wirtschaftlich unterentwickelten Nordirland-Provinz zugutekommen. Damit könne man beispielsweise gewaltige Arbeitsmarktprogramme auflegen, sagt er – und das könne auch den Frieden in Nordirland retten. „Wenn Menschen Jobs haben, haben sie auch keine Zeit mehr, sich gegenseitig zu bekämpfen.“
David Phinnemore schüttelt darüber nur den Kopf. Der Engländer ist Professor für europäische Politik an der Queen’s University. „Diese Rechnung wird nicht aufgehen“, sagt er. Westminster werde das Geld vielleicht für anderes brauchen. „Die Staatsverschuldung ist beispielsweise riesig und muss getilgt werden.“Außerdem werde Nordirland bereits jetzt großzügig von London subventioniert. Sehr fraglich, ob man diesem Geld noch mehr hinterherwerfen wolle.
Beim Bestreben nach einem maßgeschneiderten Brexit-Deal könnte Nordirland die Europäische Union zu Hilfe kommen. „Die EU betrachtet Nordirland als Erfolgsgeschichte“, sagt David Phinnemore. Denn sie habe viele Millionen in die Befriedung des bürgerkriegsähnlichen Konflikts zwischen Nationalisten und Unionisten gesteckt, der fast drei Jahrzehnte lang in Nordirland tobte. Das will natürlich keiner schlechtreden: weder Brüssel, noch Dublin, noch London – und erst recht nicht Belfast.
„Die EU betrachtet
Nordirland als Erfolgsgeschichte“ Professor für europäische Politik
an der Queen’s University