Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
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dem vorweg, was heutzutage – im Reflex auf die historische Aufführungspraxis – keinerlei Diskussion mehr auslöst. Leider fehlt in der Scribendum-Box ausgerechnet seine bedeutendste Beethoven-Einspielung: die schier elektrisch aufgeladene „Eroica“vom 1958 aus Wien. Revolutionärer, brandiger, unerhörter hat man das Werk nie gehört. In der DGG-Lieferung ist sie allerdings enthalten.
Dass der bekennende, zu Lebzeiten oft angefeindete Sozialist eine zu Herzen gehende Wiener Einspie- lung der h-Moll-Messe zuwege brachte, mag erstaunen. Hört man sie, versinken alle Klischees von musikalischer Sachlichkeit, Romantisierung, Gläubigkeit oder Puristerei in der Lächerlichkeit eines bloßen Paradigmenstreits. Scherchen, der Materialist, rafft alle Gegensätze, um sie in dialektischer Unruhe zu versöhnen. Die Arien ertasten Bekenntnishaftes. Gewiss ist die Qualität der Solisten durchwachsen, doch hat Scherchen ihnen einen bestechend deklamatorischen Gestus anerzogen, der eher nach Brecht klingt.
Für einen eigensinnigen (und politischen) Störenfried wie Scherchen war 1933 selbstverständlich kein Platz mehr in Deutschland. Das lähmte ihn keine Sekunde. Empört umkreiste er die Heimat als Gastdirigent. Als GMD Oswald Kabasta in Wien alle jüdischen Orchestermusiker auf die Straße setzte, gründete Scherchen mit ihnen sein neues Musica-Viva-Orchester. Zu jener Zeit setzte er in einem einzigen Wiener Winter unerschrocken alle Sin-
als nach Thomanerchor fonien Gustav Mahlers aufs Programm – als flammenden Gruß der Heimatlosen. Drei Mahler-Aufnahmen aus den fünfziger Jahren mit dem Orchester der Wiener Staatsoper bezeugen Scherchens seherische Kompetenz für ein gebrochenes, nie gusseisernes Mahler-Bild. Es ist im Kopfsatz der Fünften voller Grimm und bestürzender Gewalt, es weiß den doppelbödigen Jubel im Finale der Siebten mit vehementer Differenzierung einzufangen. Musizieren als Säurebad.
Und kaum eine Aufnahme hat den wild-verschwörerischen Charakter der Zweiten besessener herausgearbeitet. Wie Scherchen die „Auferstehung“wirklich aussingen lässt, als Choral des visionären Menschentraums – es ist eine Sternstunde der Mahler-Interpretation.
Scherchen stellte an sich ebenso hohe Anforderungen wie an seine Musiker, das rettete ihm jenen lebenswichtigen Rest von Sympathie, ohne den er nirgendwo die Einladung eines Orchesters bekommen hätte. Und Scherchens Aufnahme von Mozarts Requiem ist ein Fall für die Ewigkeit. Das „Tuba mirum“hört man mit einem Kloß im Hals. Das „Rex Tremendae“zwingt einen nieder. Im „Recordare“wird man von Scherchen mit allem Trost, der Musik zu eigen sein kann, wieder aufgerichtet.
Ein eiskalter Dirigent? Doch nur ein Gerücht.