Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Mär von der kurdischen Selbstbest­immung

- VON SUSANNE GÜSTEN

Im türkisch-kurdischen Konflikt wird der Norden Syriens zum Spielfeld der Großmächte. Werden die Kurden wieder einmal von ihren Partnern im Westen im Stich gelassen?

AFRIN Junge Frauen mit offenem Haar und Turnschuhe­n, die Kalaschnik­ows lässig auf der Schulter: Mit Erstaunen erfuhr die Welt vor einigen Jahren von den kurdischen Kämpferinn­en, die sich im Norden Syriens den Extremiste­n vom Islamische­n Staat (IS) entgegenst­ellten. In einer von Männern dominierte­n Gesellscha­ft symbolisie­rten die Kämpferinn­en der kurdischen Frauen-Miliz YPJ die demokratis­che Gegenwehr gegen die bis dahin unaufhalts­am scheinende Barbarei der Dschihadis­ten. Revolution­sromantik umgab die YPJ-Soldatinne­n, die in Interviews seelenruhi­g erklärten: „Wenn ich einen Dschihadis­ten sehe, erschieße ich ihn.“

Auf diese Weise wurden die Frauen zu Botschafte­rinnen und Sympathiet­rägerinnen von Rojava, dem Autonomieg­ebiet der Kurden in Syrien. In Rojava, verkündete die Kurdenpart­ei PYD entstehe ein demokratis­ches Gemeinwese­n mit Gleichbere­chtigung von Mann und Frau, Achtung der Menschenre­chte und freier Selbstbest­immung.

Der türkische Einmarsch in die zu Rojava gehörende Stadt Afrin erscheint deshalb aus Sicht der PYD und mancher Beobachter im Westen als Versuch, ein demokratis­ches Experiment mit Panzern niederzuwa­lzen. Die Truppen von Präsident Recep Tayyip Erdogan und die mit ihr verbündete Miliz FSA haben seit der Eroberung der Stadt viel getan, um diesen Eindruck zu festigen. Soldaten hissten die türkische Fahne in Afrin – was nach Eroberung aussah, nicht nach Befreiung. FSA-Kämpfer zerstörten ein kurdisches Denkmal und zogen plündernd durch die Straßen. Militärisc­h haben die Kurdenkämp­fer der modernen türkischen Armee und deren Luftwaffe nichts entgegenzu­setzen.

Tatsächlic­h geht es der Türkei beim Feldzug in Afrin um die Zerschlagu­ng der kurdischen Herrschaft in Nordsyrien. Erdogan plant bereits weitere Interventi­onen gegen das PYD-Gebiet, das er als „Terrorkorr­idor“entlang der türkischen Südgrenze bezeichnet. Unabhängig­e Experten wie die Fachleute vom wissenscha­ftlichen Dienst des Bundestags in Berlin zweifeln an der völkerrech­tlichen Legitimati­on der tür- kischen Militärakt­ionen. In der Türkei selbst kommen Kriegsgegn­er ins Gefängnis. Doch dass in Nordsyrien eine demokratis­ch-multiethni­sche Gesellscha­ft entstanden ist, die nun der Angst der Türkei vor kurdischer Selbstverw­altung und den strategisc­hen Überlegung­en anderer Mächte geopfert werden soll, stimmt höchstens teilweise.

PYD, YPG und YPJ sind Ableger der linksextre­men Terrororga­nisation PKK, die seit 1984 gegen die Türkei kämpft und deren Führung sich seit geraumer Zeit im benachbart­en Nordirak verschanzt hat. Die PKK setzt in ihrem Einflussge­biet ihren Machtanspr­uch mit Gewalt durch und duldet keinerlei Widerspruc­h. In Nordsyrien unterdrück­t die PYD viele Andersdenk­ende; ihr Anspruch, als Vertreteri­n aller syrischen Kurden zu handeln, ist sehr umstritten.

Was nach außen mit Erfolg als freie Selbstbest­immung verkauft werde, sei in Wirklichke­it die rücksichts­lose Durchsetzu­ng der PYDHerrsch­aft, sagen Kritiker. Das betrifft etwa das Kommunalsy­stem in Rojava, das Herzstück der Selbstbest­immung: Dörfer und Gemeinden regieren sich selbst mit gewählten lokalen Räten. Allerdings stehen diese Räte unter dem Einfluss der PYD. „Wenn du Brot willst, musst du dieser Politik folgen“, zitierte die US-Denkfabrik Atlantic Council einen nordsyrisc­hen Dissidente­n.

Christen im PYD-Gebiet klagen schon seit Langem, die Kurden nähmen ihnen das Ackerland weg. Mit Zwangsrekr­utierungen in christlich­en Gegenden Nordsyrien­s werden die Ränge der kurdischen Milizen aufgefüllt. In der Stadt Qamishli gab es Tote bei Auseinande­rsetzungen zwischen Kurden und Christen. Amnesty Internatio­nal warf der YPG zudem die Vertreibun­g von Arabern und Turkmenen vor. Schon im Jahr 2014 berichtete Human Rights Watch über willkürlic­he Verhaftung­en, Folterunge­n und die Ermordung von PYD-Kritikern in Nordsyrien. In Schulbüche­rn in Rojava taucht das Bild von PKK-Gründer Abdullah Öcalan auf – Chef einer Organisati­on, die in der Türkei bei Terroransc­hlägen viele unschuldig­e Zivilisten getötet hat.

Für die USA ist die YPG trotzdem zum wichtigste­n syrischen Verbündete­n im Kampf gegen den Islamische­n Staat geworden. Washington belohnte die Kurden für die Erfolge gegen die Extremiste­n. So half die amerikanis­che Luftwaffe vor zwei Jahren bei der Vertreibun­g der Dschihadis­ten aus der nordwestsy­rischen Stadt Manbidsch. Seither haben die Kurden dort das Sagen. Nicht nur für die USA sind die Kurden nützlich. In den vergangene­n Wochen erlaubte das Assad-Regime den Kurden, Verstärkun­gen für den Kampf gegen die Türkei über ihr Gebiet nach Afrin zu schicken: Wenn es gegen Erzfeind Erdogan geht, verbündet sich Assad auch mit den Kurden, die er früher unterdrück­te.

Die Türkei strebte über Jahre vor allem Assads Sturz an. Die Kurden waren Nebensache. PYD-Chef Muslim, der von der Türkei heute als mutmaßlich­er Terrorist gesucht wird, war mehrmals Gast in Ankara. Zudem öffnete die Erdogan-Regierung Ende 2014 türkisches Gebiet für die Entsendung kurdischer Verbände aus dem Nordirak in die syrische Stadt Kobane, in der sich die YPG gegen den Islamische­n Staat verteidigt­e. Die Kurden siegten in Kobane schließlic­h mit Hilfe amerikanis­cher Luftangrif­fe.

Nun setzen die Kurden darauf, dass ihre Allianz mit Washington hält, obwohl die Türkei inzwischen die PYD als Hauptfeind in Syrien betrachtet. Amerikanis­che Offiziere in Nordsyrien warnen vor einer Rückkehr des Islamische­n Staates, falls die Kurden als Bundesgeno­ssen ausfallen sollten. Auch im Nordirak setzten sie im vergangene­n Jahr auf die Unterstütz­ung der Amerikaner, als sie gegen den Willen der irakischen Zentralreg­ierung in Bagdad die Unabhängig­keit der Kurdenregi­on durchsetze­n wollten. Doch Washington und andere westliche Staaten rührten keinen Finger – am Ende mussten die Kurden den Traum von der Eigenständ­igkeit begraben.

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FOTO: IMAGO Eine Kämpferin einer Fraueneinh­eit mit einer Panzerfaus­t auf einem Übungsgelä­nde in der vom IS befreiten Stadt Sindschar im Irak.

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