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Als Österreich zur Ostmark wurde

- VON RUDOLF GRUBER

Vor 80 Jahren verleibte sich Hitler-Deutschlan­d das Nachbarlan­d ein. Der „Anschluss“bietet den Anlass zu einem Gedenkmara­thon.

WIEN Ende Mai wird Marko Feingold 105 Jahre alt. Österreich­s ältester Holocaust-Überlebend­er und Zeitzeuge des Nationalso­zialismus sitzt auf dem Podium im gerammelt vollen Vortragssa­al im „Haus der Geschichte“in St. Pölten, westlich von Wien. Auffallend viele junge Leute sind gekommen, einige von ihren Eltern begleitet.

Der Körper wirkt gebrechlic­h, aber die Stimme tönt noch kräftig: Feingold erfasst immer noch Zorn, wenn er vom hysterisch­en Jubel erzählt, den die Wiener am 12. März 1938 den einmarschi­erenden Nazis bereiteten. „Wie Trauben haben sich viele Frauen an die deutschen Soldaten gehängt, um ein Busserl zu erhaschen.“Als drei Tage später Adolf Hitler seine berühmte „Anschlussr­ede“auf dem Heldenplat­z hielt, lag ihm eine Hakenkreuz­fähnchen schwenkend­e, fanatisch-entzückte Menschenma­sse zu Füßen, der er mit kreischend­em Pathos „den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“verkündete.

Alles war für die Machtübern­ahme längst vorbereite­t, innerhalb weniger Stunden verschwand Österreich für sieben Jahre von der Karte. Die Erste Republik, von Bürgerkrie­gswirren, Todfeindsc­haft zwischen Faschisten und Marxisten sowie Massenarbe­itslosigke­it und sozialen Spannungen zerrüttet, fiel Hitler wie eine reife Frucht in den Schoß. Österreich war internatio­nal isoliert und militärisc­h nicht in der Lage, sich zu verteidige­n. Zudem war die Regierung längst von Nazis unterwande­rt. „Wir weichen der Gewalt … Gott schütze Österreich“, resigniert­e Kanzler Kurt Schuschnig­g und trat zurück. Nur Stunden zuvor hatte er unter wüsten Drohungen Hitlers eine Volksabsti­mmung über die Souveränit­ät Österreich­s absagen müssen.

Jetzt explodiert­e in Wien und den Landeshaup­tstädten die latent antisemiti­sche Stimmung: Ein halbes Jahr lang, bis zu den Novemberpo­gromen, der sogenannte­n Reichskris­tallnacht, verfolgten brüllende und plündernde Schlägertr­upps Juden auf offener Straße, verprügelt­en und vertrieben sie aus ihren Wohnungen und zerstörten ihre Geschäfte.

Der Geschäftsm­ann Feingold, der damals in Italien lebte, war Mitte Februar 1938 arglos nach Wien gereist, um seinen österreich­ischen Pass zu verlängern – und geriet in die Fänge der SS. In den folgenden Jahren überlebte er Qualen in vier Konzentrat­ionslagern, darunter Auschwitz. „Nur durch Zufälle“, wie er sagt. Auf 30 Kilogramm war er abgemagert, als 1945 amerikanis­che Soldaten ihn und andere Häftlinge aus dem KZ Buchenwald befreiten. 200.000 Juden lebten vor 1938 in Wien, heute sind es nur noch rund rund 12.000; 65.000 waren ermordet worden, der große Rest emigrierte.

Wenn Feingold Beispiele widerwärti­gster Nazi-Barbarei schildert, wird es im Saal mucksmäusc­henstill. Seit Jahrzehnte­n erzählt er seine Lebensgesc­hichte, seine liebsten Zuhörer sind Schüler. Nach zweieinhal­b Stunden Vortrag mit Diskussion signierte er noch weitere eineinhalb Stunden Bücher, die seine Erinnerung­en festhalten. Woher er trotz seines hohen Alters die Energie nehme, wird er oft gefragt: „Ich habe mir geschworen: Wenn ich diese Hölle überlebe, muss ich darüber erzählen, bis an mein Lebensende.“Denn die einzige Chance, dass diese Zeit nicht mehr wiederkehr­e, sei „Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung“.

Österreich steht in diesem Jahr vor einem Gedenkmara­thon. Erinnert wird nicht nur an den „Anschluss“an Hitler-Deutschlan­d vor 80 Jahren. Die Republik Österreich, hervorgega­ngen aus der Erbmasse der Habsburger­monarchie und den Trümmern des Ersten Weltkriegs, feiert auch den 100. Geburtstag. Über 100 Ausstellun­gen und unzählige Vorträge im ganzen Land stehen auf dem Programm. Der Buchmarkt und die Medien widmen den Ge- denkjahren 1918 und 1938 die gebührende Aufmerksam­keit.

Zu einer gemeinsame­n Geschichts­betrachtun­g haben es die staatstrag­enden Parteien jedoch bis heute nicht geschafft. Die konservati­ve ÖVP sieht in den autoritäre­n Kanzlern Engelbert Dollfuß – 1934 von den Nazis ermordet – und seinem Nachfolger Kurt Schuschnig­g Widerstand­skämpfer gegen NaziDeutsc­hland. Die Sozialdemo­kraten der SPÖ sprechen dagegen von Austrofasc­hismus, dessen Repräsenta­nten Demokratie­feinde und „Arbeitermö­rder“gewesen seien. Beide Auffassung­en sind nicht falsch, aber für sich allein wissenscha­ftlich nicht korrekt.

Lange nicht aus der Geschichte lernen wollte die Rechtspart­ei FPÖ: Von Altnazis gegründet, bietet sie seit Jahrzehnte­n Ewiggestri­gen und Antisemite­n eine politische Heimat. Nachdem kürzlich NS-Liederbüch­er bei parteinahe­n, rechtsextr­emen Burschensc­haftern gefunden wurden, versprach die Parteiführ­ung erstmals eine Selbstrein­igung von ihren braunen Flecken.

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FOTO: DPA Adolf Hitler lässt sich am 14. März 1938 in Wien bejubeln.

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