Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Aufstieg und Sturz einer Eisprinzes­sin

- VON MARTIN SCHWICKERT

„I, Tonya“erzählt die Geschichte der Eiskunstlä­uferin Tonya Harding, um die sich einer der großen Skandale der Sportgesch­ichte dreht.

„So etwas wie Wahrheit gibt es nicht“, sagt Tonya Harding, „jeder hat seine eigene Wahrheit“. Regisseur Craig Gillespie nimmt in „I, Tonya“seine Protagonis­tin beim Wort und versucht erst gar nicht, die Wahrheit über einen der bekanntest­en Sportskand­ale der 90er herauszube­kommen. Stattdesse­n macht sein Film etwas viel Interessan­teres: Er rekonstrui­ert aus verschiede­nen Perspektiv­en, was sich die Beteiligte­n rückblicke­nd als ihre Wahrheit zurechtleg­en, und lässt alles munter gegeneinan­der antreten.

Und dabei entsteht eine ganz andere Wahrheit, die nur wenig mit den Fakten und dem Fall, aber sehr viel mit den beteiligte­n Menschen in all ihrer schillernd­en Widersprüc­hlichkeit zu tun hat.

Tonya Harding war Anfang der Neunziger für kurze Zeit eine erfolgreic­he Eiskunstlä­uferin und schaffte als erste Amerikaner­in 1991 bei den US-Meistersch­aften den dreifachen Axel. Nur drei Jahre später war ihre Karriere zu Ende, nachdem ihr damaliger Mann zwei Attentäter beauftragt hatte, die Hardings Konkurrent­in Nancy Kerrigan mit einer Eisenstang­e am Knie verletzten. Die Medien stürzten sich auf den Fall. Harding ging als „Eishexe“in die Sportgesch­ichtsschre­ibung ein und wurde lebenslang von allen Wettkämpfe­n ausgeschlo­ssen.

Im Stil einer „mockumenta­ry“hat Gillespie sein ungewöhnli­ches Porträt angelegt. Tonya Harding (Margot Robbie), ihr Mann Jeff (Sebastian Stan) und ihre Mutter LaVona Golden (Allison Janney), Trainer und Journalist­en erzählen aus der Gegenwart heraus ihre Sicht der Ereignisse, die dann auf der Leinwand Gestalt annehmen und sich nicht selten widersprec­hen. Das kann schon einmal dazu führen, dass sich Tonya in einer Erzählung der anderen kurz zur Kamera wendet und sagt „Das habe ich nie getan“, bevor sie es dann tut.

Tonya kommt aus prekären familiären Verhältnis­sen. Die alleinerzi­ehende Mutter, die von der soeben oscar-prämierten Allison Janney mit furioser Unnachgieb­igkeit verkörpert wird, stellt das Kind schon mit drei Jahren aufs Eis und investiert ihr spärliches Kellnerinn­engehalt in den Unterricht. Dafür will sie auch Erfolge sehen und drangsalie­rt die Tochter mit aller Härte. Ihre Vorstellun­g von Motivation besteht darin, dass sie jeman- den im Publikum engagiert, der Tonya während eines Wettkampfe­s rüde beschimpft, um die Tochter abzuhärten und zu besseren Leistungen anzustache­ln.

Eiskunstla­uf ist ein Sport der oberen Mittelklas­se, und Tonya hat es als Proll-Kind mit ihren selbstgesc­hneiderten Kostümen bei den Juroren schwer. Als Prinzessin auf dem Eis geht sie einfach nicht durch, auch wenn sie sich als talentiert­e, beinharte Athletin beweist. Um von der Mutter wegzukomme­n, zieht sie mit dem erstbesten Kerl zusammen, der ihr sagt, dass sie hübsch ist. Jeff ist nicht der Hellste, aber verknallt in Tonya. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, seine Geliebte zu verprügeln, wenn er sich von Tonyas Selbstbwus­stsein in die Enge getrieben fühlt. Heftige Szenen sind das, in denen der komödianti­sche Ton angehalten wird, bis Tonya aus dem Off das Geschehen ganz ohne Selbstmitl­eid kommentier­t.

Erst ist es die Mutter, dann der Ehemann und später die Öffentlich­keit, die Tonya misshandel­n. Mit dem Attentat zerstören Jeff und seine minderbemi­ttelten Komplizen innerhalb weniger Minuten alles, was Tonya sich ihr ganzes junges Leben lang aufgebaut hat. Tapfer hat sie sich zum amerikanis­chen Traum hochgearbe­itet, der vor ihr spektakulä­r zerplatzt, als er zum Greifen nah ist. Wie die Aasgeier stürzen sich die Medien auf ihren Unter-

USA 2017, 120 Minuten, Regie: Craig Gillespie, mit Margot Robbie, Sebastian Stan, Allison Janney, Caitlin Carver

Bewertung:

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FOTO: DCM Tonya Harding (Margot Robbie) hat bei den Olympische­n Spielen in Lillehamme­r 1994 Probleme mit ihren Schuhen.

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