Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Das Haus der 20.000 Bücher
Chimen stand ein wenig vorgebeugt da; er trug ein kurzärmeliges graues Hemd und eine Jarmulke; seine rechte Hand lag auf dem linken Handgelenk, an dem er gewöhnlich seine Armbanduhr trug. Yehezkel saß links von den beiden in einem gestärkten weißen Hemd und blickte streng drein. Er war achtundsiebzig Jahre alt und trug einen langen weißen Bart. Es war das letzte Mal, dass mein Vater ihn sah, und das einzige Mal, dass ich ihn je zu Gesicht bekam.
An der anderen Seite des Klaviers stand ein Holzschränkchen, in dessen unterem Teil Mimi einige Papiere verwahrte; der obere Teil enthielt die wenigen Bände, die sie in diesem mächtigen Haus der Bücher für sich beanspruchte: ein paar Kochbücher, einige Kriminalromane, eine Reihe populärgeschichtlicher Werke. Nach ihrem Tod beließ Chimen ihre Bücher dort. Es kam für ihn offenbar nicht infrage, die Regale mit seinen eigenen Bänden zu füllen. Vor den Büchern waren weitere Fotos aufgestellt, darunter eines von mir als Dreizehnjährigem. Ich trug meinen schwarzen Schulblazer, eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und einen rot-schwarz gestreiften Schlips. Noch war ich nicht in der Pubertät, kaum über einen Meter fünfzig groß und hatte ein glattes, engelhaftes Gesicht. Ich stehe neben Denis Healey, einem der führenden Politiker der Labour Party, der in den sechziger und siebziger Jahren Regierungsmitglied war. In den achtziger Jahren bemühte er sich, die Partei auf Kurs zu halten, als sie immer weiter nach links abdriftete. Mitte der Achtziger war er Schattenaußenminister, also der Wortführer der Labour Party für auswärtige Angelegenheiten. Der massige Mann mit unglaublich buschigen Augenbrauen ragt in seinem grauen Anzug hoch neben mir auf. Wir stehen auf der Terrasse des Parlamentsgebäudes – ein ungewöhnlicher Besuch, arrangiert von Mimis Freundin Rose Uren, die den Abgeordneten zahnärztlich behandelte. (Von anderen Patienten, die ihr einen Gefallen schuldeten, ergatterte sie etwa schwer erhältliche Karten für das Royal Opera House und – zur außerordentlichen Freude meines Vaters – Centre-Court-Tickets für Wimbledon.) Es gab bessere Fotos von mir, doch wohl kaum eines hätte Chimen ebenso sehr begeistert. Denn je älter Chimen wurde, desto mehr wurde Healey, den ein großer Teil der Linken verabscheute, für ihn, den ehemaligen Kommunisten, zu einem politischen Vorbild: Seine sozialistischen Überzeugungen waren gemäßigt, und er scheute sich nicht, sowohl der Sowjetunion als auch den Ideologen in seiner eigenen Partei die Stirn zu bieten.
Im Esszimmer schraubten sich, scheinbar wahllos, Büchertürme vom Teppichboden in die Höhe. Manchmal tauchten Stapel auf dem Esszimmertisch auf – eine Vorhut, die das Terrain erkundete und erproben wollte, wie lange es dauern würde, ehe Mimi sie des Platzes verwies. Die Tischplatte war ihr Hoheitsgebiet. „Ehrlich gesagt“, erzählte Medrich, „aß man im Grunde unentwegt. Nahrung war Treibstoff. Dies sah sie unzweifelhaft als oberstes Gebot an. Wie du ja weißt, war der folgende Gang immer schon in Vorbereitung. Mimi sorgte stets dafür, dass jeder gleichermaßen einbezogen wurde und sich am Gespräch beteiligte. Sie achtete darauf, dass niemand übergangen wurde. Und was sie auch jedesmal bewerkstelligte: Wann immer ich vorbeikam, sorgte sie dafür, dass sämtliche Verwandten früher oder später vorbeischauten.“Es war ein Mittelding zwischen Pflicht und Vergnügen: Traf ein entfernter Verwandter aus dem Ausland ein, musste ihm die gesamte Großfamilie ihre Aufwartung im Hillway machen.
Chimen hielt am Esstisch Hof, und Mimi, die Speiseplatten aus der Küche heranschleppte, ließ zwischendurch einen kernigen Spruch fallen, mit dem sie akademische Blasen nach Gutdünken zum Platzen brachte. „Am Esstisch“, fuhr Medrich fort, „wurde ihre Partnerschaft offenkundig. Ihr Zusammenspiel hatten sie im Laufe der Jahre vervollkommnet, denn es änderte sich nie.“Gemeinsam hielten sie ihren Salon in Gang, auch als die Welt der marxistischen politischen Ideen und der Begeisterung für Marx’ Texte, die anfangs so viele Besucher in den Hillway, zu spätabendlichen Gesprächen mit Chimen, gezogen hatte, zunehmend an Bedeutung verlor. Als der Kalte Krieg auf dem Höhepunkt war, waren die Feinheiten der marxistischen und sozialistischen Literatur enorm wichtig. Für die Menschen des Hillway hatten ihre Debatten nichts Abseitiges. Sie erörterten vielmehr die Zukunft – jedenfalls waren sie dieser Meinung – und versuchten zu begreifen, wie sich die Welt veränderte und wie die künftige Gesellschaftsordnung aussehen würde. In einem solchen Milieu übte Chimens Bibliothek eine magische Anziehungskraft aus. Für Marxisten war sie eine sozialistische Bundeslade, die für Macht, Wissen und die Worte irdischer Götter stand. Kein Wunder, dass Gelehrte, Politiker und Revolutionäre aus aller Welt scharen- weise in Chimens Haus der Bücher geströmt waren.
In den siebziger Jahren gehörte jedoch nicht nur Chimens Schwärmerei für den Kommunismus einer fernen Vergangenheit an. Auch weltweit nahm die Begeisterung für die bolschewistische Vision drastisch ab. Während Chimen mit ansehen musste, dass fortschrittlich gesinnte Menschen auf der ganzen Welt von den Ideen abrückten, für die er sich so leidenschaftlich eingesetzt hatte, dürfte er eine Ahnung davon bekommen haben, wie Yehezkel sich gefühlt haben mochte, als er einen stattlichen Band nach dem anderen mit seinen Religionskommentaren in einer Welt veröffentlichte, die, außerhalb der orthodoxen Enklaven, immer weniger Interesse für seine Gelehrsamkeit aufbrachte. „Der Fortschritt zerstört die jüdische Religion“, schrieb der umherziehende jüdische Romanautor und Journalist Joseph Roth betrübt bereits 1926 in Juden auf Wanderschaft. „Immer weniger Gläubige harren aus, und . . . die Zahl der Gottesfürchtigen schwindet dahin.“In seinen eigenen Kreisen schätzte man Yehezkel als gaon, als Talmud-Genie, doch außerhalb dieses Milieus war er in den siebziger Jahren schlicht ein alter Mann aus einer untergegangenen Welt. Er hatte Anhänger – Zehntausende von ihnen nahmen 1976 an seinem Begräbnis in Jerusalem teil –, aber sie lebten in ihrem eigenen Universum, abgeschottet von der säkularen Gesellschaft.