Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Auf dem Frachtenbahnhof der Nordbahn plünderten Banden von Kohlenarbeitern und Deserteuren die Magazine und die Waggons. Am Abend fiel ihnen ein ganzer Militärproviantzug in die Hände. Aus der Strafanstalt Wöllersdorf waren zweihundert Schwerverbrecher, die sich die allgemeine Verwirrung zunutze gemacht hatten, entkommen. Im Nu verschwanden die Auslagen der Juwelengeschäfte hinter Holzverschalungen. Ein tschechisches Bataillon, das man auf dem Brigittenauer Rangierbahnhof entwaffnen wollte, setzte sich zur Wehr und ging in Schwarmlinie, mit Handgranaten und Maschinengewehren, gegen die Bahnhofswache vor.
Tabak, ärarische Wolldecken, Rucksäcke, Sohlenleder, Putzschnüre und Menageschalen fielen im Preis. Man bekam sie in jeder Menge von den Heimkehrern zu kaufen. Hingegen stieg ein kleiner Laib Brot auf fünfzehn Kronen. Das Staatsamt für Volksernährung gab bekannt, dass die Fleischquote von 12½ Dekagramm für den Kopf und die Woche nicht aufrechterhalten werden könne, denn die Tschechoslowakei hielte ihre Grenzen für die Lebensmittelausfuhr gesperrt. Auf den Straßen und in den Lokalen summten die Leute nach einer alten Melodie:
„Wer wird denn in Österreich regieren?
Das werden die Wiener bald spüren. Der Tschechoslowak Steckt alles in Sack, Die Wiener, die können krepieren.“
Falsche Militärpatrouillen hielten die Soldaten an und nahmen ihnen Effekten und Lebensmittel weg. Wenn sie mit Abteilungen der Stadtschutzwache zusammenstießen, kam es zu Feuergefechten. Vereinzelt gab es noch Zeichen eines unverminderten Lebenswillens, eines nicht gebrochenen Vertrauens in die Zukunft: Neben den Plakaten, die zum Besuch des Films „Die Fürstin von Beranien, ein Lied von Lieb und Leid“einluden, klebte eine amtliche Kundmachung des Inhalts, dass die Durchführung der II. Klassenlotterie durch die „eingetretenen Ereignisse“in keiner Weise beeinflußt werde. Noch immer wurden die Extrablätter mit den Berichten der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz und Gallwitz ausgerufen: „Auf beiden Maasufern lebhafte Artillerietätigkeit. Starke Kräfte der Amerikaner brachten wir im Walde nördlich von Boval zum Stehen.“
Doktor Emperger war, als Vittorin bei ihm eintrat, mit der Sichtung seiner Zivilgarderobe beschäftigt. In malerischem Durcheinander lagen Smoking, Cutaway, gestreifte Modehosen, Krawatten, farbige Hemden, ein Winterrock, ein kurzer Sportpelz und eine Weste aus Brokatsamt auf Sofa und Stühlen verstreut. Ein durchdringender Geruch von Kampfer und Naphthalin erfüllte das Zimmer. Auf dem Schreibtisch standen, militärisch ausgerichtet, Halbschuhe, hohe Reitstiefel, Pumps, Schnürstiefel und Galoschen.
Mit einer völlig außer Form geratenen Offizierskappe in der Hand begrüßte Doktor Emperger den Gefährten aus der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft.
„Da! Schau’ dir sie einmal an!“sagte er. „Das ist der Welt Lohn. Zwei Jahre Schützengraben, zwei Jahre Sibirien. Zum Dank dafür haben sie mir gestern die Rosette von der Kappe geschnitten. Halbwüch- sige Buben, Lehrjungen, Handelsschüler. Na, fort mit Schaden, ich wein’ ihr keine Träne nach. – Setz’ dich, Vittorin, das heißt, wenn du wo Platz findest, du siehst, wie’s bei mir aussieht. Was mach’ ich jetzt mit dem Mantel und mit dem Waffenrock? Vielleicht kauft sie mir eine Kostümleihanstalt ab, meinst du nicht? Die kleine Silberne geb’ ich drauf. Kann sein, dass es mal große Mode wird, als österreichischer Offizier von Anno achtzehn auf die Kostümbälle zu gehen. Ja, mein Lieber, historischer Augenblick. Frau Wessely! Möchten Sie nicht endlich mal Ordnung machen? Das kann doch nicht alles so liegenbleiben, zum Kuckuck! Frau Wessely! Hört wieder mal nicht, das alte Luder. Setz’ dich, Vittorin. Was führt dich her?“„Ich bringe wichtige Nachrichten“, sagte Vittorin. „Ich wollte die Sache erst einmal privatim mit dir besprechen, deine Ansicht hören, bevor ich den anderen offiziell – Also hör’ einmal: Seljukow ist nicht mehr in Tschernawjensk. Alle Berichte, die ich in den letzten Tagen erhalten habe, stimmen darin überein, dass er – Was gibt’s? Wohin läufst du?“Doktor Emperger war aus dem Zimmer geschossen. „Was ist denn, Frau Wessely!“hörte Vittorin ihn schreien. „Warum kommen Sie denn nicht, wenn man Sie ruft? Wollen Sie nicht endlich mal Ordnung machen? Drin sieht’s aus wie in einer Räuberhöhle. Halb sechs ist’s schon. Lassen Sie sehen, was haben Sie gebracht? Ist das alles? Sardinen, hab’ ich gesagt, Leberpastete. Ein Stückerl Salami wird doch noch zu bekommen sein. Ich kann doch meinen Gästen nicht Rübenmarmelade vorsetzen, um des Himmels willen. Zwei Flaschen Curaçao, eine Flasche Anisette, hab’ ich Ihnen gesagt, Würfelzucker, Salami, Sardinen, ja, gut, meinetwegen portugiesische, was Sie wollen, nur genießbar müssen sie sein. Geld? Schon wieder? Ich hab’ Ihnen doch erst heute morgens – unerhört! Was machen Sie denn mit dem vielen Geld, schmeißen Sie’s zum Fenster hinaus?“Atemlos kam er ins Zimmer zurück. „Du entschuldigst, Vittorin. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Gelüftet muss auch noch werden, ich erwarte heute abends Gäste. Um alles muss ich mich selbst kümmern. – Also was ist’s mit Seljukow, laß hören.“Vittorin war im höchsten Grad verstimmt. Er hatte die Lust verloren, den Doktor Emperger, dem Curaçao, Würfelzucker und Sardinen wichtiger zu sein schienen als die Nachrichten über Seljukow, ins Vertrauen zu ziehen. „Es sind Berichte eingelaufen“, sagte er kurz. „Wir müssen eine Zusammenkunft abhalten, morgen, spätestens übermorgen, die Sache drängt. Du wirst die Güte haben, das Nötige zu veranlassen.“„Morgen, übermorgen – unmöglich!“rief Doktor Emperger. „Morgen abends bin ich bei meinem Chef eingeladen, für übermorgen hab’ ich Karten in die Oper, und tagsüber – wo soll ich denn die Zeit hernehmen, jetzt, wo ich mich in der Bank erst einarbeiten muß! Vielleicht geht es diesmal ohne mich oder – wart’ einmal, natürlich, so ist’s am allereinfachsten, Feuerstein und der Professor sind heute abends bei mir. Du kommst eben auch, wirst ein paar nette Leute kennenlernen. Also abgemacht. So gegen halb neun, dreiviertel neun.“
(Fortsetzung folgt)