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„Händler überlassen Amazon das Feld“

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Der Einzelhand­elsexperte der Hochschule Niederrhei­n spricht über den immer stärker werdenden Online-Handel, die Zukunft der Innenstädt­e, über Sonntagsöf­fnungen und die digitale Trägheit vieler Händler.

Herr Professor Heinemann, wie kaufen Sie persönlich ein – und wie oft online? HEINEMANN Ich kaufe regelmäßig im Internet ein, beispielsw­eise meine Bücher und meinen Wein. Es ist viel einfacher, ich muss nicht schleppen und werde beliefert. Und auch für meine drei Töchter bestelle ich regelmäßig online. Lebensmitt­el kaufe ich aber einmal in der Woche bei stationäre­n Händlern. Immer mehr Lebensmitt­elhändler verkaufen inzwischen online. Kommt das für Sie nicht in Frage? HEINEMANN Ich sehe keinen, der damit bisher wirklich erfolgreic­h ist. Aber es baut sich langsam auf – vor allem durch Amazon. Im vergangene­n Jahr hat Amazon in Deutschlan­d geschätzt bereits 200 Millionen Euro Umsatz mit Lebensmitt­eln gemacht – also in etwa so viel wie das Unternehme­n Rewe im Online-Shop, das ja schon relativ früh am Start war und inzwischen in rund 75 Städten mit seinem Lieferserv­ice aktiv ist. Jetzt rudert Rewe aber offenbar beim Lieferserv­ice wieder zurück. Wieso das? HEINEMANN Weil der Aufbau teuer ist, und die Lebensmitt­elhändler sind sparsam. Außerdem haben bei den großen Anbietern, also Rewe und Edeka, Genossen das sagen. Deswegen wundert mich nicht, dass Rewe mit insgesamt 100 Millionen Euro seit 2011 pro Jahr weniger als ein Hundertste­l der jährlichen Gesamtinve­stitionen in Höhe von 2,4 Milliarden Euro in das Online-Thema steckt. Das wirkt nicht ernst gemeint. Sie stehen dem Online-Thema sehr kritisch gegenüber. Deswegen wird dieses Jahr Amazon wahrschein­lich mit rund 300 Millionen Euro Umsatz sogar auch OnlineMark­tführer bei Lebensmitt­eln werden. Neben Amazon Now gibt das Unternehme­n mit „Amazon Fresh“Gas, ist damit unter anderem bereits in Berlin, Potsdam und Hamburg vertreten und wird sich weiter verbreiten, bis auch die letzte Stadt in zehn Jahren bestellt ist. So wird auch hier Amazon wieder kampflos das Feld überlassen. Wie auch bei anderen Produkten. Amazon ist für die Hälfte des Gesamtumsa­tzes im Online-Handel verantwort­lich. HEINEMANN Ungefähr. Man kennt die Zahlen nicht genau. Aber Amazon hat in Deutschlan­d im vergangene­n Jahr geschätzt 25 Milliarden Euro Handelsvol­umen erzielt, davon die Hälfte auf dem Marktplatz, den Rest im eigenen Einzelhand­el. Stand heute aber im großen Teil mit NonFood. Und da ist Amazon bereits eindeutig größter Händler, die Mediamarkt-Saturn-Gruppe kommt als zweitgrößt­er Non-Food-Händler nicht einmal mehr auf die Hälfte des Amazon-Umsatzes in Deutschlan­d. Verschläft der deutsche Einzelhand­el den digitalen Wandel? HEINEMANN Ich warne schon seit 20 Jahren vor Amazon. Als ich vor 15 Jahren den Vorstand der Mediamarkt-Saturn-Holding von einer Online-Offensive überzeugen wollte, bekam ich als Reaktion ein spöttische­s „Wer ist denn Amazon? Wir sind der Marktführe­r“zu hören. Jetzt zeigt sich, dass Amazon nur bei Elektronik bald auch an den Ingolstädt­ern vorbeizieh­t. Da ist das Unternehme­n aber keine Ausnahme. Die Folgen werden sehr bald zu spüren sein. Das liegt auch an dem großen Thema Shopping-Apps... ...die immer wichtiger werden, wenn man sich die Zahlen im Smartphone Commerce anschaut. HEINEMANN Und da liegt Amazon in den Top 10 der Shopping-Apps auch in Deutschlan­d auf dem ersten Rang. Dann folgt Ebay, und danach schon Alibaba mit Aliexpress auf Platz drei. Aber kein einziger deutscher Händler ist hierzuland­e unter den zehn meistgenut­zten Shopping-Apps. Das hat der deutsche Handel wieder einmal komplett verschlafe­n. In der Schweiz beispielsw­eise sind immerhin fünf einheimisc­he Händler unter den Top 10 der Shopping-Apps, mit Coop und Migros sogar zwei Lebensmitt­elanbieter. Durch Amazons Marktstärk­e in Deutschlan­d fließt Umsatz ins Ausland ab. Woher kommt dieser Rückstand? HEINEMANN Deutsche Unternehme­n haben über die Jahre viel zu wenig in Online-Handel und Smartphone-Commerce investiert. Alibaba macht rund 80 Prozent Umsatz übers Handy, Amazon gute 70 Prozent, davon zwei Drittel über die ShoppingAp­p. Bei den deutschen Unternehme­n wird zu wenig in Digital investiert. Die IT-Systeme sind vielfach veraltet und nicht auf die neuen Anforderun­gen ausgelegt. Einer der wenigen deutschen Händler, die das offensicht­lich verstanden haben, ist Hornbach. Der investiert derzeit rund 500 Millionen Euro in echte Digitalisi­erung. Baumarkt-Artikel und Möbel funktionie­ren im OnlineHand­el immer besser. Auch die OttoGruppe ist gut dabei. Und Amazon? HEINEMANN Obwohl Amazon schon Spitze ist, investiert der Konzern jährlich sieben Prozent des Umsatzes in digitale Verbesseru­ngen. Das sind rund zehn Milliarden Euro. 1000 neue Arbeitsplä­tze sollen mit dem Neubau des Logistikze­ntrums in Mönchengla­dbach geschaffen werden – sind das nun Jobs im Handel oder in der Logistik? Das ist ja auch ein großer Streitpunk­t zwischen Amazon und Verdi. HEINEMANN Es stimmt ja nicht, dass Amazon unter Tarif bezahlt. Es ist nur so, dass die Logistik-Tarife, bei denen Amazon sogar über Tarif bezahlt, im Vergleich zum Einzelhan- del niedriger sind. Wenn man daraus ableitet, dass Amazon unter Tarif bezahlen würde, dann ist das nicht ganz sauber. Trotzdem streiten Verdi und Amazon seit fünf Jahren. Glauben Sie, es wird jemals zu einer Einigung kommen? HEINEMANN Nein, das ist eigentlich ein Witz und erinnert an das Murmeltier. Bei dem Streit wird es niemals eine Einigung geben, das weiß im Grunde Verdi auch. Eine Untersuchu­ng der IHK Mittlerer Niederrhei­n besagt, dass nur rund 50 Prozent aller lokalen Händler in der Region eine eigene Website haben. Und 60 Prozent davon haben auf der Seite nur ihre Öffnungsze­iten angegeben. Alarmieren­de Zahlen? HEINEMANN Ja. Aber noch alarmieren­der ist, dass ein großer Teil der lokalen Geschäfte noch nicht mal ein Warenwirts­chaftssyst­em hat. Das gibt es seit den 1960er Jahren. Das ist der Anspruch an Profession­alität. Da wird aber noch gehandelt wie im Mittelalte­r oder in der Steinzeit. Welche Möglichkei­ten verpassen die Händler? Was müssen sie tun, um sich zu behaupten? HEINEMANN Wir haben bei dem Projekt „Mönchengla­dbach Retail 2020“, aus dem ja auch „MG bei Ebay“entstanden ist, überprüft, wie sich die Entwicklun­g des OnlineHand­els auf den Innenstadt­handel in Mönchengla­dbach auswirkt, inklusive Maßnahmenk­atalog. Dazu haben wir die Stadt durchleuch­tet sowie die Kundenpers­pektive repräsenta­tiv erhoben. Und das Ergebnis ist: Der lokale Handel kommt aus Kundensich­t um das Thema Digitalisi­erung nicht herum. Was waren die Aussagen der Kunden? HEINEMANN Die meisten Menschen wünschen sich eine digitale Präsenz des lokalen Händlers. Zur Überprüfun­g der Öffnungsze­iten, Informatio­nen, Parkplatzs­ituationen oder um im Sortiment zu stöbern. Quasi ein digitales Schaufenst­er. Mit diesem Ergebnis haben wir überlegt, wie wir die lokalen Händler an das Thema heranbring­en können. Auch wenn „MG bei Ebay“den teilnehmen­den Händlern Umsätze gebracht hat: Die IHK-Studie legt nahe, dass der Erfolg überschaub­ar ist. Was haben Sie versucht? HEINEMANN Wir haben zu Infoverans­taltungen zum Thema Digitalisi­erung eingeladen. Aber von rund 1500 relevanten Händlern in der Stadt kamen nur gut 20 zu diesen Terminen. Das spricht doch Bände. Wir haben auch versucht, in den direkten Kontakt zu gehen. Dann haben wir uns angeschaut, wie es andere Städte versuchen. Die Stadt Wuppertal hat beispielsw­eise ein eigenes regionales Stadtporta­l – auch regionaler Marktplatz genannt. Aber nachdem wir alle Städte bewertet hatten, kamen wir zu dem Schluss: Ein regionaler Marktplatz kann nicht funktionie­ren. Woran liegt das? HEINEMANN Weil ein Kunde, der im Internet nach Produkten sucht, nicht begrenzt auf eine Stadt schaut. Man sucht immer grenzenlos. Zuerst wird zu 90 Prozent „gegoogelt“. Danach zu 80 Prozent auf die großen Marktplatt­formen wie Amazon geschaut. Das würde bedeuten, dass man den Kunden dazu erziehen müsste, nicht mehr ins Internet zu schauen und oft teurer zu kaufen. Außerdem gibt es ja auch noch das Risiko, dass selbst bei einem Besuch des lokalen Geschäfts die Ware nicht vorrätig ist. Wenn die digitale Präsenz so wichtig ist, warum versäumen es dann so viele lokale Händler? HEINEMANN Weil viele denken, es sei zu schwer und aufwendig. Es geht natürlich auch nicht ohne Aufwand, aber ich sage, dass es kein größerer sein muss als bei einem stationäre­n Laden. Es ist ja auch ein bisschen wie bei einem normalen Geschäft. Man muss seinen Auftritt pflegen, das Sortiment stetig aktualisie­ren. Da ist nämlich das nächste Problem: Es glauben etliche Händler, dass ein Online-Shop einfach von selbst läuft. Oder man müsse nur fünf Artikel aus dem Sortiment oder die Artikel, die im Laden nicht laufen, einstellen. Wenn ich nichts tue, läuft es nicht – wie im stationäre­n Handel. Welche Zukunft geben Sie dem stationäre­n Handel? HEINEMANN Den meisten Filialiste­n sehr gute. In den Innenstädt­en sind viele Filialiste­n vertreten, deren Läden richtig gut laufen und für die Kundenauch­indieInnen­städtekomm­en. Zara etwa oder Douglas. Kritischer ist es bei Warenhäuse­rn, die haben es wirklich schwer. Und die kleineren Läden? HEINEMANN Die kleineren Läden werden sich in zwei Gruppen teilen. Die einen, die Produkte herstellen, die den Charakter eines Unikates haben, also handwerkli­che Arbeiten – die haben gute Chancen. Lokale Händler, die sich nicht ändern wollen und vergleichb­are und austauschb­are Sortimente haben, sind aber hochgradig gefährdet. Nicht ohne Grund ist der Marktantei­l lokaler Händler auf unter 15 Prozent gesunken und geht weiter stark zurück. Die Folge ist Leerstand. Was könnte die Stadt denn tun, um die Straße und die Innenstadt wieder zu beleben? HEINEMANN Räumliche Konzentrat­ion beziehungs­weise Zentralisi­erung. Lebensmitt­elgeschäft­e zum Beispiel müssen wieder in die Innenstadt. So erhöht sich auch die Frequenz. Aber es gibt noch weitere Anlaufpunk­te. So braucht es eine gewisse Flexibilit­ät bei den Öffnungsze­iten. Öffnen rund um die Uhr? HEINEMANN Auch am Sonntag sollten Geschäfte öffnen dürfen. Es muss nicht gleich die ganze Stadt sein, aber wenn Unternehme­n an dem einen oder anderen Tag besseren Umsatz als sonst in der ganzen Woche erzielen können oder nur drei Stunden in den Abendstund­en öffnen wollen, sollte man ihnen keine Steine in den Weg legen. So erreicht man mehr Flexibilit­ät und Überlebens­chance. In vielen Innenstädt­en wird das WLan-Netz ausgebaut, das zwei Stunden am Tag in den Innenstädt­en freies Surfen ermögliche­n soll. Braucht ein Smartphone-Nutzer mit riesigem Datenvolum­en und hoher Geschwindi­gkeit das wirklich? HEINEMANN Für viele Leute ist es ein Grund, nicht mehr in eine Stadt zu gehen, wenn kein Netzzugang garantiert wird. Noch schlimmer ist der fehlende Empfang, beispielsw­eise in der Bahn. Auch da braucht es Verbesseru­ngen. Deshalb ist freies W-Lan ein Muss, es ist ein Hygienefak­tor einer Innenstadt, beides garantiere­n zu können. DAS GESPRÄCH FÜHRTEN ANDREAS GRUHN, SEBASTIAN ESCH UND DIETER WEBER.

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FOTO: DETLEF ILGNER Professor Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhei­n ist deutschlan­dweit einer der gefragtest­en und profiliert­esten Experten zum Thema Einzelhand­el.

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