Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Auf den Stufen der Kirche saß eine Frau in einem zerschlissenen schwarzen Seidenkleid, sie streckte, ohne den Kopf zu heben, stehend die Hände aus, als sie die Schritte der Vorübergehenden hörte. Aus einer dunklen Nische trat plötzlich ein Posten und leuchtete mit einer Taschenlaterne Vittorin und seinen Begleitern ins Gesicht. In einem Hof ordneten sich Bürger, die man ausgehoben hatte, um sie an der Front zu Erdarbeiten zu verwenden, schweigend und mit gesenkten Köpfen zu einem Zug. An den Haustüren, an den Mauern, an den Lattenzäunen hingen Dekrete des örtlichen Sowjets. Sie forderten von jedem Einwohner die Ablieferung dreier Garnituren Wäsche für den Bedarf der Roten Armee.
Im Grigorowschen Gefängnis wurde Vittorins Name in das Register eingetragen. Er entnahm den Reden seiner Begleiter, dass er der Spionage zugunsten der Konterrevolution verdächtig war, doch er vermochte keineVorstellung mit diesen Worten zu verbinden.
Erst als sich die Tür der Zelle hinter ihm schloss, wich der Druck von ihm, der den ganzen Tag auf ihm gelastet hatte. Bei dem matten Schimmer einer Öllampe, die von der Decke herabhing, gewahrte er Menschen, es waren ihrer mehr als ein Dutzend, einige lagen auf Holzpritschen oder auf dem Fußboden, andere kauerten auf Strohbündeln, einer saß auf einer zerbrochenen Kiste – und dieser Anblick brachte Vittorin eine Art Beruhigung; er war nicht mehr allein, sondern einer von vielen, er hatte Schicksalsgenossen. Er verspürte Müdigkeit, er hatte das Bedürfnis, zu sitzen und seine Lage in Ruhe zu überdenken, sich klar darüber zu werden, wie das alles gekommen war. Und während er sich langsam, mit den Händen tastend, zu Boden gleiten ließ, hörte er dicht neben sich einen wilden kreischenden Schrei, der in das Fauchen einer gereizten Katze überging, einen Schrei, aus dem Zorn, Angst und Verzweiflung klangen:
„Rühren Sie mich nicht an! Hüten Sie sich, mich anzurühren! Sehen Sie nicht, dass ich tot bin?“
Vittorin fuhr in die Höhe und blickte erschrocken auf eine Gestalt, die mit dem Gesicht zur Wand, in einer unnatürlichenVerkrümmung, steif und unbeweglich auf der Erde lag.
Von der Holzpritsche her kam ein leises Jammern. „Es ist nicht möglich. Es ist nicht möglich. Heiliger und allmächtiger Gott, sie lassen mich nicht schlafen.“
Von seinem Platz beim Fenster erhob sich ein alter Mann. Vorsichtig über die am Boden Liegenden hinwegschreitend, kam er auf Vittorin zu.
„Achten Sie nicht auf jenen dort, er ist krank“, sagte er. „Die dort oben haben ihm den Verstand aus dem Kopf getrieben. Man sollte ihn in ein Lazarett bringen, aber hier in diesem Hause gewährt Krankheit kein Anrecht auf bessere Behandlung. Kommen Sie! Ich bin der Zellenälteste, ich werde Ihnen einen Platz anweisen.“
In der Nähe des Fensters gab es mehr Raum. Die Gefangenen hatten sich in der Mitte des Kerkers zusammengedrängt, um sich vor dem Schneewind zu schützen, der durch die zerbrochenen Scheiben fuhr. Der Zellenälteste ließ sich neben Vittorin nieder.
„Sie sind ein Fremder, nicht aus dieser Stadt?“sagte er. „Wessen beschuldigt man Sie? Ich, sehen Sie, bin ein Spekulant. Wir hatten noch ein wenig Mehl und Zucker, meine Frau buk Kuchen, und ich verkaufte sie in den Teestuben und an den Straßenecken. Das ist meinVergehen, deswegen bin ich hier. Damals, als sie nach Artemjew zu suchen begannen, haben sie mich verhaftet. Artemjew – Sie kennen nicht diesen Namen? Artemjew. Ein alter Sozialrevolutionär, ein Terrorist, ein Unterirdischer aus der Zeit des Zarentums – er soll auf dem Weg nach Moskau sein, um im Auftrag des Pariser Exekutivkomitees der Menschewiki mit Sinowjew, mit Lenin, mit Kamenew, seinen alten Freunden, abzurechnen. Diesen Artemjew, sehen Sie, fürchten die Machthaber von heute mehr als alle weißgardistischen Generale, denn er kennt die Kampfmethoden, er arbeitet nicht mit Proklamationen, sondern mit Dynamit, mit Höllenmaschinen –“Vittorin presste die Zähne zusammen und unterdrückte ein Stöhnen des Zornes und der Verzweiflung. Auch er hatte abzurechnen, doch ein sinnloser Zufall hielt ihn hier fest, das Schicksal hatte sich schmählich auf die Seite seines Feindes gestellt.
„Ich bin noch nicht verhört“, flüsterte er leise und ingrimmig. „Wann werde ich zum Verhör gerufen werden?“
„Wenn Sie Glück haben, so kann das noch lange dauern“, meinte der Zellenälteste. „Vielleicht vergißt man Sie.“
„Aber ich will verhört werden, verstehen Sie denn nicht?“rief Vittorin. „Ich verlange mein Recht, nichts anderes. Mein Menschenrecht.“
Der alte Mann hob seine Hand zu einer müden, hoffnungslosen Bewegung.
„Was sind das für Worte!“sagte er. „Menschenrecht! Wer in diesem Hause ist, hat sein Menschenrecht verloren. Das Verhör? Es ist besser, Sie erwarten nicht zu viel von diesemVerhör. Es dauert zwei Minuten, man hört Sie nicht an, wenn dem Untersuchungsrichter Ihr Gesicht nicht gefällt, kann er Sie sogleich erschießen lassen. Das ist das Verhör.“
Vittorin schwieg und starrte auf das vergitterte Fenster.
„Menschenrecht!“fuhr der alte Mann fort. „Sehen Sie jenen dort, Bobronikow, den ,Toten’, der Sie mit seinem Geschrei erschreckt hat.Vor der Revolution betrieb er einen Juwelenhandel. Man brachte ihn hierher, vielleicht hat er irgendwelche verbotenen Geschäftchen gemacht. Er ließ den Kopf nicht hängen. ,Oft genug’, sagte er, ,hab’ ich die Kommissare in meinem Haus bewirtet, meine Frau, Iraida Petrowna, wird schon die nötigen Schritte machen.’ – In den ersten Tagen verfertigte er Bastschuhe und flocht kleine Körbe aus Weidenruten, die ihm die Schwester vom Roten Kreuz gebracht hatte, daran fand er ein Vergnügen. Da aber kam dem Kommandanten solch ein Einfall. ,Bürger Bobronikow, zum Verhör’ – hieß es eines Tages. Man führte ihn hinunter in den Keller, dort lagen die Leichen zweier Leute, die man ein paar Stunden vorher erschossen hatte. – ,Nun, Bürger, kommt die Reihe an Sie’, sagte der Kommandant. ,Lang genug ist es Ihnen wohl ergangen, mit Brot und Fischsuppe haben Sie sich bei uns vollgemästet.’