Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Sie sind also einer von den Leuten Artemjews“, sagte er. „Sie hätten das gleich sagen sollen. Ich kenne Artemjew, ich habe mit ihm zu tun gehabt. Wo befindet er sich? Ist er in Moskau?“
„Er ist in Moskau. Haben Sie nicht von dem Überfall auf den Geldtransport der Lederverteilungszentrale gelesen? Das war Artemjew. Sie sind, wie ich sehe, schon etwas weniger beunruhigt. Wir werden uns verständigen. Vielleicht werden Sie mir sogar eine Tasse Tee anbieten.“„Worüber, Genosse, sollen wir uns verständigen?“fragte Vittorin, dessen Mißtrauen von neuem erwachte. Der Mann lud Vittorin mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen. Dann nahm er ihm gegenüber Platz. „Wenn wir die Lage betrachten“, begann er, „so bietet sich uns, Genosse, folgendes Bild: Die antibolschewistischen Kräfte sind zersplittert. Was ihnen fehlt, das sind genaue Richtlinien, eine einheitliche Führung. Nehmen wir zum Beispiel Ihre Organisation. Sie arbeitet in der Armee, sucht da und dort Verbindung anzuknüpfen. Nun sehen Sie, auch wir haben ein Interesse daran, Parteizellen in den roten Regimentern zu bilden, unsere Angehörigen in führende Stellungen zu bringen. Also zwei Büchsen mit gleichem Pfeffer, um den Fisch zu würzen. Warum aber zwei Büchsen? Weil Ihre Organisation, statt parallel mit uns zu arbeiten – “
„Ich gehöre keiner Organisation an“, warf Vittorin ein.
„Ihre Freunde also, wenn Sie diese Bezeichnung lieber hören – “
„Ich habe keine Freunde in Moskau.“
„Um Worte wollen wir uns nicht streiten. Ihre vorgesetzten Genossen – “
„Es gibt in dieser Sache keine vorgesetzten Genossen“, erklärte Vittorin mit Nachdruck.
„Wollen Sie damit sagen, dass hinter Ihren Aktionen keine treibende Kraft, keine Partei, keine Bewegung steht?“
Einen Augenblick lang sah Vittorin das dicke, gerötete, ewig schwitzende Gesicht seines alten Kameraden Feuerstein.
„Ich mache alles allein“, sagte er von einer plötzlichen Niedergeschlagenheit befallen. „Ich habe keinen Menschen, der mir hilft. Eine Organisation war da, aber die ist zerfallen.“
„Ich kann nicht erwarten, dass Sie mir sogleich Vertrauen schenken“, sagte der Fremde nach einer Pause. „Sie müssen sich vor jedermann in acht nehmen, auch vor mir, das ist klar.“
„Es ist so, wie ich sage“, beteuerte Vittorin. „Meinen besten Mann haben sie verhaftet. Und der letzte, der mit mir war, hat sich erschossen. Graf Gagarin. Kennen Sie den Namen?“
„Nein. Er ist mir unbekannt. Vielleicht, Genosse, sprechen Sie die Wahrheit. Wenn sich aber Ihre Organisation aufgelöst hat – , erwägen Sie die Lage, welchen Sinn hat denn Ihre isolierte Arbeit? Sie werden sich, Genosse, sehr bald vor die Wahl gestellt sehen, entweder in unsere Reihen zu treten, oder Ihre Tätigkeit einzustellen. Schütteln Sie nicht den Kopf, es wird dennoch so sein. Sie können sich in Moskau nicht auf die Dauer – “
„Ich bleibe nicht in Moskau“, fiel ihm Vittorin ins Wort. „Ich habe hier nichts mehr zu suchen. Ich gehe an die Front.“
„Sie gehen fort?“rief der Mann mit der Brille, und eine Sekunde lang zeigte sich Überraschung in seinem Gesicht. „Ist das schon völlig sicher? Ich bedaure Ihren Entschluss, Genosse, vielleicht hätten wir Sie vor wichtigere Aufgaben gestellt. Wann gedenken Sie Moskau zu verlassen?“
„Das kann ich heute noch nicht sagen. Ich will an die Front, aber zu einem ganz bestimmten Regiment. Sie verstehen, darin liegt die Schwierigkeit.“
„Wo, Genosse, liegt die Schwierigkeit?“
„Ich glaube nicht, dass die Bezirkskommission auf persönliche Wünsche Rücksicht nimmt.“
„Merkwürdige Anschauungen haben Sie“, sagte der Mann mit der Brille. „Wozu brauchen Sie die Bezirkskommission? Wir haben die Stempel aller Regimenter, die Stempel der Kanzleien, der Regimentskomitees, der Divisionsstäbe, der Militärschulen und des Kriegskommissariats, wir haben Blankoformulare jeder Art, Passierscheine, Ernennungsdekrete, sogar der Vollzugsrat des Moskauer Sowjets hat uns sein Dienstsiegel überlassen müssen. Wir werden Ihnen schon ein Papierchen mitgeben. – Einen zweiten Ausgang hat die Wohnung nicht? Das ist schade.“
Zwei Stunden später erhielt Artemjew, der diese Nacht in einem Massenquartier des Presnjaviertels verbrachte, den folgenden, auf den Rand eines Zeitungsblattes gekritzelten Bericht:
„Was das Lokal betrifft, so würde sich die Wohnung des Deutschen, mit dessen Beobachtung ich betraut war, vorzüglich dazu eignen, um in ihr Bomben herzustellen und zu ver- stecken. Auch kann man von ihren Fenstern den Taganskyplatz überblicken, wo sich das Zentralamt für den Handel mit Wolle und die Auszahlungsstelle für Krankenunterstützung befindet. Dies erscheint mir wichtig, mit Rücksicht auf die materielle Lage unserer Organisation, da uns dieser Umstand gestattet, Beobachtungen anzustellen und den günstigen Zeitpunkt für eine Expropriation wahrzunehmen. Der Vorstand des Hauskomitees ist mir bekannt. Er nimmt Geld, von seiner Seite sind Schwierigkeiten nicht zu erwarten. Mit dem Deutschen hatte ich eine Unterredung. Obwohl er es vermied, darüber eine Erklärung abzugeben, konnte ich feststellen, dass es sich um eine rechtsgerichtete Gruppe handelt, die die Bildung einer bürgerlichen Regierung anstrebt. Bezeichnend hierfür ist, dass sich in einem der Zimmer Bilder des ehemaligen Ministers Goremykin, des Generals Efimowitsch und anderer Repräsentanten des kaiserlichen Regimes befinden. Die Frage des operativen Zusammenwirkens mit dieser Gruppe ist zu verneinen. Sie ist in voller Auflösung begriffen, ihre besten Leute sind im Gefängnis. Der Deutsche ist entschlossen, seine konspirative Tätigkeit aufzugeben und Moskau zu verlassen. Im übrigen wäre er meiner Meinung nach höchstens für den Beobachtungsdienst zu verwenden gewesen.“In einer Speisewirtschaft, die im Keller des gegenüber dem Spaßkitor gelegenen, einstmals Fürst Kudaschewschen Hauses eingerichtet worden war, traf Vittorin mit Artemjew zusammen.