Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Pfaffs Hof
Das war das Erste, was Vater in Angriff genommen hatte, nachdem die Böden so einigermaßen sauber waren und man erkennen konnte, welche Farbe das Linoleum hatte. Grau in der Wohnküche, dunkelrot in der guten Stube; in der Spülküche mit dem tiefen gemauerten Becken lagen rote und graue Steinfliesen im Schachbrettmuster.
Das Ehebett hatten wir aus unserem Haus im Dorf mitgebracht.
Das Ehebett mit den beiden Nachtschränkchen und der Garnitur, drei grünen Läufern, je zwei lange an den Bettseiten und ein kürzerer am Fußende.
Außerdem unseren Kühlschrank, den Fernsehapparat und einen Sisalteppich für das Wohnzimmer.
Das Bett war für uns drei, Vater, Mutter und mich. Ich schlief auf der Besucherritze. Schon immer. Mutter hatte extra einen schmalen Matratzenkeil nähen lassen, damit ich einigermaßen bequem lag.
Ich hatte noch nie allein geschlafen. Ich besaß kein eigenes Bett. Warum das so war, erzählte Mutter oft: „Annemarie war erst neun Monate alt, als wir damals in das Haus gezogen sind. Es war Dezember, eisig kalt, ein schlimmer Winter, sicher minus zwölf Grad, wenn nicht noch kälter.
Und der Verrückte hatte für den Innenputz so viel Zement genommen, dass das Wasser an den Wänden herunterlief und zu Eis wurde.
Jeder hat ihm gesagt, du bist nicht gescheit, so kann das Haus doch nicht atmen. Aber natürlich hat er sich nichts sagen lassen.
Der Kerl weiß ja alles besser. Gebaut wird für die Ewigkeit!
Der hat immer noch Hitler im Blut.
Was sollte ich denn machen? In der Wiege wäre mir das Kind doch erfroren, also musste ich es zu mir ins Bett holen.“
„Filter und Kaffee hab ich gefunden“, sagte Guste und wühlte in einem der Kartons, die noch nicht ausgepackt waren, „wo sind die Filtertüten?“
„Hier an der Seite.“Mutter war wieder hereingekommen, ihr Gesicht war nicht mehr so rot.
„Warum kocht das Wasser denn noch nicht?“Sie legte den Handrücken an den Kessel.„Verdammt, der Ofen ist nicht heiß genug!“
Unser schöner weißer Elektroherd mit den vier Platten war noch nicht angeschlossen und stand in der Spülküche mit der Backofentür zurWand. Also mussten wir auf dem riesigen rostigen Ofen kochen, der mit Holz befeuert wurde.
„Annemarie, auf der Tenne liegt ein Stapel Brennholz. Hol mal ein paar Scheite.“
Ich verschluckte mich und musste husten.
Auf der Tenne gab es tausend finstere Ecken, in denen jemand hätte lauern können. „Ich hab aber Angst.“Mutter verdrehte die Augen und griff zum Holzkorb, aber Guste war schneller. „Lass, Gerda-Kind, setz dich hin und leg ein bisschen die Füße hoch. Ist doch alles nicht mehr so leicht in deinem Alter.“
Mutter war vierzig und schwanger.
Im August würde ich Schwester werden. Eigentlich war ich das schon, aber meinen großen Bruder Peter kannte ich nicht richtig. Er war von zu Hause weggegangen, als ich noch ziemlich klein gewesen war. Vater war zweiundfünfzig. Zum Abendessen kochte Mutter Grießmehlsuppe mit Rosinen und Eischneeflocken.
Wir aßen am kleinen Küchentisch und setzten uns danach ins Wohnzimmer.
„Erzählst du mir, wie du Onkel Karl kennengelernt hast?“, fragte ich.
Guste lachte. „Das hab ich dir doch schon erzählt.“„Och bitte!“Aber Mutter mischte sich ein: „Schluss jetzt, du gehörst ins Bett, es ist schon acht Uhr durch.“
„Ich muss doch morgen gar nicht in die Schule.“
„Das ist egal. Komm, du darfst auch auf meiner Seite einschlafen.“
Das fand ich schön, dann war ich nicht so nah an Vaters Kopfkissen, das nicht gut roch.
„Unglaublich, was du dir alles zusammenschwitzt!“, sagte Mutter immer. „Wer weiß, was für fiese Träume dahinterstecken!“
Sie deckte mich zu und schaute mich an, das hieß Zeit fürs Beten. Ich kannte zwei Abendgebete: „Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu. Alle, die mir sind verwandt, Gott, lass ruh’n in deiner Hand. Alle Menschen, groß und klein, sollen dir befohlen sein. Amen.“
An diesem Abend nahm ich das kürzere, weil alles so unheimlich war und ich ganz schnell einschlafen wollte.
„Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Amen.“
Als Mutter vom Bettrand aufstand und das Licht ausknipste, wurde mir wieder kalt.
„Lass die Tür auf“, rief ich. „Und lass das Licht in der Küche an, bitte!“
Da kam sie noch einmal zurück, bückte sich und drückte ihre Wange an meine.„Du musst keine Angst haben, wir sind doch im Wohnzimmer. Ach, Kind, wenn ich dich nicht hätte . . .“Dann ging sie. Ich zog mir die Decke über den Kopf. Die Tür zur Tenne hatte kein Schloss, durch die Spülküche hätte einer hereingeschlichen kommen können.
Mir wurde heiß, ich zog die Decke wieder herunter und versuchte, an etwas Schönes zu denken.
Vater hatte erzählt, dass dieses Haus schon zweihundertfünfzig Jahre alt war.
Ich versuchte auszurechnen, wann es dann gebaut worden sein musste.
Es dauerte eine Weile – das war dann wohl 1713 gewesen.
Ich wurde ganz aufgeregt: Guste war 1896 geboren, das war im letzten Jahrhundert, 1713 war dann ja noch ein Jahrhundert davor!
Was für Leute wohnten wohl damals in diesem Haus?Wie hatten sie ausgesehen, was hatten sie für Kleider getragen? Ob sie mit Pferdekutschen gefahren waren? Und was sie wohl gegessen hatten?
Bestimmt gab es Bücher darüber. Es gab über alles Bücher, das wusste ich. Mutter und Vater hatten keine. Aber ich hatte welche, in dem kleinen Karton neben dem Kleiderschrank.
Sogar meine alten Bilderbücher, die ich mit Omma gelesen hatte, waren noch da: „Die Häschenschule“, „Bellinchen, das Glockenblumenkind“und „Der Struwwelpeter“.