Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Der Menschenfänger
In diesem Jahr kürt Stockholm keinen Autor. Wir stellen unter anderem zur Wahl: John Irving.
TORONTO Wenn es eine Kunst ist, Figuren zu erschaffen, die lebendig und abseits des Werks eigenständig zu existieren scheinen, dann ist John Irving darin ein Meister. Ob der Schriftsteller T.S. Garp, der Baseball-Fan Owen Meany oder der Waisenjunge Homer Wells, sie alle wirken auf den Leser eher wie ferne Bekannte als Geschöpfe literarischer Fabulierlust. Was wohl einerseits daran liegen mag, dass Irving sie reichlich mit autobiographischem Erleben ausgestattet hat, andererseits aber auch an seiner Fähigkeit, die menschliche Psyche mit all ihren Abgründen, Hoffnungen und Höhenflügen auszuloten, den Kern einer Figur so akribisch freizulegen, dass man sie zwischen den Zeilen atmen spürt.
John Irving ist vielleicht kein Wortakrobat unter den Schriftstellern, kein Zeilendrechsler, aber er ist ein Menschenfänger, ein Seelenzauberer, der den Leser tief hineinzieht in sein fantastisches Universum, seine ganz eigene, schillernd-charmante, urkomische und todtraurige Comédie humaine.
Irving, 1942 in Exeter, New Hampshire, geboren, kokettiert selbst gerne damit, mehr Handwerker als Künstler zu sein. Tatsächlich konstruiert er seine Bücher akribisch durch, baut und schreibt sie angeblich beginnend vom letzten Satz hin zum Anfang – mit der Hand. Ein mühsamer Prozess, der sich über Jahre hinzieht. Immerhin 14 Bücher sind so seit 1968 entstanden, vom ersten, „Lasst die Bären los“, bis zum aktuellen, „Straße der Wunder“(2015). Den weltweiten Durchbruch brachte 1978 „Garp und wie er die Welt sah“, die grandios-groteske Lebensgeschichte eines Schriftstellers und seiner Familie. Es geht um Transsexualität, um eruptive Gewalt, um vaterlos aufwachsende Söhne, schwache Männer und starke Frauen, Bären spielen eine Rolle und das Ringen, Wien ist ein Schauplatz und New Hampshire sowieso. Außerdem schlägt das Schicksal unerwartet und unbarmherzig zu – Verlust und alles, was daraus folgt, ist eines der großen Motive Irvings.
Wie sich überhaupt fast alle der vorgenannten Themen mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Büchern wiederfinden. Irving, der seinen leiblichen Vater nie kennenlernte und als Elfjähriger von einer älteren Frau missbraucht wurde, der sich früh dem Ringen als Sport verschrieben hat und ein Jahr in Wien studierte, der von sich sagt, dass mit seinen Kindern auch die Angst in sein Leben getreten ist, schöpft aus seinem eigenen Erleben schier unendlichen Stoff. Angereichert um aberwitzige Details und einem feinen Gespür für die Poesie des Profanen.
So hat er nicht nur Figuren, sondern auch Bilder geschaffen, die bleiben: Das Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen etwa (in „Witwe für ein Jahr“), oder, in „Garp“, den Sog, der für eine gefährliche Strömung steht, aber auch für das Böse und den Tod, dem erst Garps Sohn und dann er selbst zum Opfer fallen. Böse Zungen behaupten allerdings, dass Irving denselben Roman immer wieder schreibt. Und es ihm dabei zuletzt nicht mehr gelingt, an die Klasse seine früheren Werke anzuknüpfen – für „Garp“erhielt er den National Book Award, für sein Drehbuch zu „Gottes Werk und Teufels Beitrag“den Oscar (ein Nobelpreis wäre die angemessene Steigerung).
So wie ein Ringer den perfekten Griff sucht, um seinen Gegner auf die Matte zu werfen, sucht Irving nach der perfekten Geschichte, um den Leser zu überwältigen. Manchmal greift er halt daneben. Aber aufgeben wird er nie.