Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Europäer ist, wer es sein will“
Auf dem ganzen Kontinent sollen Künstler bald die Europäische Republik ausrufen. Das Manifest dazu hat Robert Menasse mitverfasst.
Wir sind heutzutage ja kaum noch Manifeste gewohnt. Ist diese Form der Forderung so selten, weil es die großen Ziele nicht mehr gibt?
MENASSE Man war nie Manifeste gewohnt. Es gibt ja nicht unausgesetzt welche. Manifeste werden im Moment von Epochenbrüchen formuliert, wenn das Alte in seinem Todeskampf, jetzt eben der Nationalismus, eine letzte trügerische Euphorie erlebt, und das Neue sich erst sehr plakativ formulieren kann. So wie ein Wegweiser, der eine Richtung vorschlägt, aber nicht jeden Schritt definiert. Und natürlich gibt es die großen Ziele, vieles, worauf die Aufklärung abgezielt hatte, ist noch nicht eingelöst, oder ist bedroht oder als Phrase in Sonntagsreden bis zur Leblosigkeit ausgesaugt worden.
Manifest heißt wörtlich übersetzt: handgreiflich machen. Im Grunde geht es also darum, dass alle Forderungen und Wünsche möglichst schnell das Papier verlassen. MENASSE Ja. Man sagt immer, Papier ist geduldig. Das Manifest ist ein ungeduldiges Papier. Es gab in den letzten Jahrzehnten immer wieder recht gute Gründe für hoffnungsvolle Geduld. Aber wenn Zombies nach der Macht greifen und Mächtige ihnen die Hand reichen, ist Geduld ein Verbrechen an der Menschlichkeit.
Liest man das Manifest von hinten, klingt das wie ein Aufschrei, wie eine Revolution: „Es lebe die Europäische Republik!“Braucht Europa diesen revolutionären Geist?
MENASSE Europa hat ja den revolutionären Geist. Gerade Deutschland, wo bekanntlich so konsequent wie kaum wo anders revolutionär gedacht wurde. Aber eben nur gedacht.
Es gibt viele kluge Aufsätze zu Europa. Fehlt bei all den „Vernunftpredigten“die Emotion, vielleicht auch das Pathos?
MENASSE Wissen Sie, mit Emotionen ist es so eine Sache. Ich habe Emotionen bei meiner Frau, meiner Tochter, mit Freunden und in Hinblick auf meinen Fußballverein. Ich kann Emotionen bei bestimmten Dingen haben, die für mich irgendwie Heimat bedeuten, bestimmte Gerüche, Licht- und Farbenverhältnisse, Tonfälle, Mentalitäts-Schrullen, die irgendwie Wienerisch sind. Der Pathos des Nationalismus ist mir fremd, und ich will ihn daher nicht für eine höhere Ebene erfinden. Ich gebe zu, dass ich bei der Ode an die Freude eine Träne verdrücken muss. Aber was die allgemeinen Rahmenbedingungen unseres Lebens betrifft, bin ich fröhlich und engagiert dankbar für Sachlichkeit und Vernunft. Kann man sich in die Europäische Menschenrechtscharta verlieben? Ja, aber ganz anders als ein Nationalist in die nationalen Symbole seiner Besonderheit und den Stolz auf den Zufall seines Geburtsorts.
Das Manifest will viel: den Weg Europas in die gemeinsame Zukunft zeigen mit dem deutlichen Hinweis auf die schuldverstrickte Vergangenheit des Kontinents. Ist das eine ohne das andere nicht zu haben?
MENASSE Doch, es wäre schon das eine ohne das andere zu haben. Aber das wollen wir nicht haben. Wer keine Lehren aus der Geschichte zieht, wird in Zukunft die Lehren der Geschichte ziehen müssen, die er jetzt produziert. Und die werden nicht erfreulich sein.
Im Manifest heißt es, dass das Europa der Nationalstaaten gescheitert sei. Woran machen Sie das fest?
MENASSE Die Konkurrenz der Nationalstaaten hat zu einem zweiten Dreißigjährigen Krieg geführt, von 1914 bis 1945. Friedensverträge zwischen Nationen haben nichts genützt, es gab trotzdem Krieg, Bündnisse zwischen Nationen sicherten den Frieden nicht, die Nationen sind dennoch übereinander hergefallen. Das alleine wäre schon Grund genug, die Nationalstaaterei zu überwinden. Dazu kommt jetzt noch die Globalisierung, also die Zertrümmerung aller nationaler Souveränität. Jeder Nationalstaat scheitert gegenüber den Herausforderungen, die sich daraus ergeben. Sie alle sind längst transnational, von den Finanzströmen über die Wertschöpfungsketten bis hin zu den ökologischen Problemen und den Ansprüchen an Sicherheit und soziale Gerechtigkeit. Da hilft nur Gemeinschaftspolitik. Unser Anspruch ist, diese demokratisch zu gestalten. Das ist nicht alternativlos.
Aber die Alternative wäre eine Misere.
„Europäer ist, wer es sein will“, heißt es. Angesichts der schwierigen Flüchtlingsdebatte auch hierzulande verlangt das viel Souveränität von den „Alt-Europäern“. Zu viel?
MENASSE Ja, viel zu viel. So sehr zu viel wie die zehn Gebote, der kategorische Imperativ und die Menschenrechtsdeklaration.
Wie euphorisch sind Sie?
MENASSE Überhaupt nicht. Der Anspruch auf Freiheit, Gleichheit, Solidarität ist ja keine Droge, sondern ein Grundbedürfnis. Manchmal ist die Verteidigung dieses Anspruchs Notwehr. Euphorisch? Ich bitte Sie.
LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.