Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Wege durch das Wirrwarr der Jugend
Der Film „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“erzählt jüdisches Heranwachsen nach dem Krieg. Die Vorlage liefert André Heller.
DÜSSELDORF Klein und verloren wirkt der zwölfjährige Paul Silberstein in der schlossähnlichen Villa, die sein Zuhause ist – und irgendwie auch nicht. In diesem monströsen Anwesen fröstelt es Paul selbst im Sommer, denn menschliche Nähe sucht der aufgeweckte Junge, gespielt von Valentin Hagg, hier vergebens. Sein Vater: ein despotischer Süßwarenfabrikant mit soldatischem Gebaren, dessen tragische Figur von Karl Markovics verkörpert wird. Auch bei seiner Mutter findet Paul keine Zuneigung. Emma Silberstein (Sabine Timoteo) ist eine unnahbare Frau, die Hausschuhe mit Absatz trägt und eine körperlose Beziehung zu ihren Sohn hat. Doch Paul rebelliert, mit eigenwilligem Humor und seiner Vorstellungsgabe: In einem Asbestanzug in den Vesuv steigen, so sehen seine Träume aus. Sein Vater hat für derlei Flausen nichts übrig und schickt ihn auf ein Jesuiteninternat.
Wie in einem Kammerspiel zeigt Regisseur Rupert Henning, wie die Buben zwischen schwarzbraunem Eichenmobiliar dem autoritären Erziehungsstil der Patres ausgesetzt sind. „Haltet Abstand!“lautet das oberste Gebot des Generalpräfekten (Robert Seethaler), der in menschlicher Nähe Versuchungen des Teufels sieht. Genau dieser Versuchung will Paul nachgehen, als er eines Tages aus dem Fenster einem blonden Mädchen beim Reiten zusieht.
Der Film „Wie ich lernte bei mir selbst Kind zu sein“nach den Erinnerungen des Schauspielers und Chansonniers André Hellers zeigt ein Paradox: Beim Erwachsenwerden kämpft Paul für das Kind-Sein. Doch mit seiner spielerischen Art hebt er diesen Gegensatz auf. Wer glaubt, Fantasie und Wunschdenken hinter sich lassen zu müssen, läuft Gefahr, so zu werden wie einige Erwachsene in diesem Film: verbohrt, zynisch, asexuell.
Überhaupt thematisiert der Film Sexualität auf unaufgeregte Weise: Bei einem Teller Kutteln spricht „Onkel Monti“mit dem Fast-Teenager ganz offen über „rauschhafte Orgasmen“– vielleicht eine typisch jüdische Art mit diesem Thema umzugehen. Denn auch damit muss sich Paul auseinandersetzen: Was bedeutet es, Jude zu sein, zumal in Österreich? „Du bist, wer du bist und deshalb musst du gewisse Dinge wissen“, erklärt ihm sein Onkel Lou und geht mit ihm zu dem Ort, an dem einst die Synagoge stand.
Shoa, katholische Sexualmoral und erstes Verliebtsein – das ist dann doch einiges, was im Film verhandelt wird. Verzichten könnte man auf die groteske Jagd des Vaters nach Nazi-Kollaborateuren; das hätte die fast 140-minütige Produktion verschlankt. Sonst ist die Themenfülle gerechtfertigt: Schließlich sind auch Heranwachsende mit zahlreichen Fragen und Problemen konfrontiert.
Unbeirrt bahnt sich Paul durch dieses Wirrwarr einen Weg und macht uns Mut, es ihm gleich zu tun: „Bekenne dich zu deiner Merkwürdigkeit“lautet eine seiner Maximen. Auch wenn einige dieser Sentenzen nach seichter Feelgood-Mentalität klingen, wirken sie im Film niemals banal. Im Gegenteil: Auf charmante Weise ruft uns Paul Silberstein auf, einfach mal wieder das zu tun, was uns in den Sinn kommt.
Info Ab morgen im Kino.