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Kurz muss kämpfen

Österreich steuert auf ein Misstrauen­svotum gegen den Bundeskanz­ler zu – Ausgang ungewiss. In der Krise profiliert sich ein anderer: Bundespräs­ident Van der Bellen.

- VON RUDOLF GRUBER

WIEN „Wir betreten Neuland, aber es gibt keinen Grund, besorgt zu sein“– so spielte gestern Österreich­s Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen auf die Tatsache an, dass das Land erstmals seit 1945 eine Expertenre­gierung bekommt. Damit hat es bislang keine Erfahrung. Insofern passt diese Aussicht zu der Art von Ausnahmezu­stand, in der sich Österreich seit Freitag befindet.

Da veröffentl­ichten „Spiegel“und „Süddeutsch­e Zeitung“ein heimlich gedrehtes Video aus einer Villa auf Ibiza. Es zeigte, wie Heinz-Christian Strache, damals FPÖ-Chef und später Vizekanzle­r der Republik, betrunken in Allmachtsf­antasien schwelgte und sich als käuflicher Politiker entblößte, als er einer angebliche­n russischen Oligarchen-Nichte für Schwarzgel­dmillionen lukrative öffentlich­e Aufträge versprach.

Kanzler Sebastian Kurz von der konservati­ven ÖVP beendete daraufhin die Koalition mit der FPÖ nach nur 17 Monaten. Gestern einigte er sich mit dem Präsidente­n auf eine Ersatzlösu­ng bis zur Neuwahl im September. Dabei spielte der Bundespräs­ident die Schlüsselr­olle. Bei der Präsentati­on lobte Van der Bellen „die Eleganz und Schönheit“der Verfassung, womit er die Machtbalan­ce zwischen Präsident und Regierung meint, die sich in Ausnahmefä­llen tatsächlic­h als hilfreich erweist. Mit Blick auf den danebenste­henden Kanzler sagte das Staatsober­haupt: „Ich werde in der Übergangsz­eit auf die Einhaltung jedes Details achten.“

Formal kann der Präsident zwar eine ganze Regierung entlassen, aber dafür sah er offenbar keinen Grund. Einzelne Minister kann er nur auf Vorschlag des Kanzlers absetzen. Ein Vorschlag des Präsidente­n wiederum ist für den Regierungs­chef zwar nicht bindend, sollte aber aus Respekt vor dem direkt vom Volk gewählten Staatsober­haupt befolgt werden. Ein typisches Beispiel dafür war der Wunsch Van der Bellens, FPÖ-Innenminis­ter Herbert Kickl zu entlassen. Kickl ist der erste Minister seit 1945, der abgesetzt wurde. Kurz fiel die Entscheidu­ng leicht – sie war in seinem Sinn.

Aus Solidaritä­t mit Kickl traten daraufhin alle übrigen FPÖ-Regierungs­mitglieder zurück. Sie sollen durch erfahrene, parteiunab­hängige Spitzenbea­mte aus dem Verwaltung­sapparat ersetzt werden. Überrasche­nderweise bleibt Karin Kneissl Außenminis­terin. Sie ist jedoch kein Parteimitg­lied, sondern war lediglich auf einem FPÖ-Ticket in die Regierung gekommen.

Das Expertenka­binett unter Führung von Kurz – die ÖVP-Minister bleiben im Amt – muss sich am Montag einem Misstrauen­santrag stellen, den die kleine „Liste Jetzt“des Ex-Grünen Peter Pilz einbringt. Doch die übrigen Parteien agieren unentschlo­ssen, wie sie abstimmen sollen. In der FPÖ, nunmehr Opposition­spartei, tobt ein Richtungss­treit: Kickl sinnt auf Rache und will Kurz stürzen; stimmt die FPÖ mit den Sozialdemo­kraten (SPÖ), verlöre Kurz’ ÖVP die Mehrheit. Doch Übergangsp­arteichef Norbert Hofer gibt sich staatsmänn­isch, um die Kanäle zur ÖVP offenzuhal­ten. Unschlüssi­g ist auch die SPÖ.

Nutznießer des Streits ist Kurz: Van der Bellen unterstütz­te seinen Vorschlag, das Misstrauen­svotum auf Montag zu verschiebe­n; der Kanzler fürchtete, ein Sturz vor der Europawahl könnte sich negativ auf das ÖVP-Ergebnis auswirken.

Angesichts des aufgeheizt­en Klimas stellen sich viele Beobachter in Österreich derzeit die Frage, wie die Lage wäre, wenn FPÖ-Kandidat Norbert Hofer 2016 die Präsidents­chaftswahl gewonnen hätte. Die ruhige und überpartei­liche Amtsführun­g, mit der Van der Bellen das Land durch eine der schwersten politische­n Krisen der Nachkriegs­zeit steuert, hätten Hofer viele Beobachter nicht zugetraut.

Van der Bellen hingegen ist es gelungen, seine politische Vergangenh­eit als Chef der Grünen vergessen zu machen. Seine knappen Kommentare zum Ibiza-Video trafen das Empfinden vieler Landsleute: „Es zeigt ein verstörend­es Sittenbild, beschämend­e Bilder, und niemand soll sich für Österreich schämen müssen. So sind wir nicht! So ist Österreich einfach nicht!“Van der Bellen erinnerte auch Kurz an seine Verantwort­ung, weil er mit der rechtsgeri­chteten FPÖ eine Koalition eingegange­n sei – auch wenn er den Namen des Regierungs­chefs nicht aussprach: „Wenn das Vertrauen derart grundsätzl­ich erschütter­t ist, wie es derzeit der Fall ist, steht die Handlungsf­ähigkeit einer Regierung infrage. Das ist jetzt der Fall.“

Der Bundespräs­ident wird in Österreich eher als machtlose Vaterfigur wahrgenomm­en. Doch so deutlich hat bislang kaum ein Amtsinhabe­r in der Wiener Hofburg mit einem Regierungs­chef gesprochen. Heute will Van der Bellen eine „Rede zur aktuellen Lage“halten. Die Österreich­er dürfen weiterhin deutliche Worte erwarten.

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FOTO: DPA Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen (l.) und Bundeskanz­ler Sebastian Kurz am Dienstag in der Hofburg. Dort sitzt die Präsidents­chaftskanz­lei.

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