Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Wann stirbt Vincent Lambert?

Ein Pariser Berufungsg­ericht urteilt: Der berühmte Koma-Patient muss am Leben gehalten werden. Der Fall lenkt den Blick auf eine Grenzsitua­tion menschlich­en Lebens, die in Deutschlan­d derzeit etwa 10.000 Patienten erleiden.

- VON JÖRG ZITTLAU

REIMS Eigentlich müsste er tot sein. Oder zumindest kurz davor. Denn am Montag kappte man am Uni-Klinikum Reims dem Koma-Patienten Vincent Lambert die künstliche Ernährung. Wobei man ihm, wie man in einer E-Mail mitteilte, „tiefgehend und kontinuier­lich“Beruhigung­smittel verabreich­te, um sein Leiden zu minimieren. Doch seine Eltern nahmen das nicht hin. Sie zogen erst vor den Europäisch­en Gerichtsho­f, wo man ihre Berufung

„Die Potenziale des Gehirns zu seiner Regenerier­ung sind größer, als viele glauben“

Niels Birbaumer Gehirnfors­cher in Tübingen

ablehnte, und dann vor ein Pariser Berufungsg­ericht, wo man anordnete, dass ihr Sohn „mit allen Maßnahmen“am Leben gehalten werden müsse. Denn es gehe um den Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderun­gen. Seit Dienstag wird Lambert wieder künstlich ernährt.

Es ist nicht das erste Mal, dass man die lebenserha­ltenden Maßnahmen für Lambert zunächst abstellte, um sie dann, nach einem entspreche­nden Gerichtsur­teil, wieder einzuschal­ten. Er liegt seit über zehn Jahren im Koma, und seit etwa sechs Jahren streitet seine Familie darüber, wie man mit ihm verfahren sollte. Seine Frau und sechs seiner Geschwiste­r plädieren dafür, seine künstliche Ernährung abzuschalt­en und ihn würdevoll sterben zu lassen. Seine Eltern und zwei andere Geschwiste­r – allesamt gläubige Katholiken – wollen ihn dagegen am Leben halten. Nachvollzi­ehbare Argumente haben beide Seiten; doch die Wissenscha­ft steht diesmal eher auf Seiten der Religion.

So betonen die Befürworte­r der Sterbehilf­e, dass sich Lamberts Zustand in den letzten Jahren nicht gebessert hätte und es höchstwahr­scheinlich auch nicht tun würde. Am Anfang seines Wachkomas zeigte er zwar noch Anzeichen eines „minimalen Bewusstsei­ns“, er öffnete also immer mal wieder die Augen und reagierte auf Reize, doch mittlerwei­le scheint er endgültig verstummt zu sein. Ein vom Gericht bestellter Neurologe konstatier­te schon 2013, dass Lambert in einen „irreversib­len vegetative­n Zustand“abgedrifte­t sei. Was konkret heißt: Sein Bewusstsei­n ist erloschen, und daran wird sich auch nichts mehr ändern.

Doch der Tübinger Neurobiolo­ge Niels Birbaumer hält beide Aussagen für „unwissensc­haftlich und spekulativ“. Denn niemand könnte sagen, was tatsächlic­h unter der Schädeldec­ke des Koma-Patienten passiert und ob da nicht noch ein Denken und Empfinden stattfinde­t. Und wenn er nach einigen Jahren verstummt, könne das auch daran liegen, dass sich kaum jemand ernsthaft bemüht hat, mit ihm in Kontakt zu treten. Bei Lambert versuchte man vier Jahre nach dem Unfall, mit ihm einen Kommunikat­ionscode, beispielsw­eise über Augenblinz­eln, zu erarbeiten. Der Versuch schlug fehl. Was laut Birbaumer kein Wunder ist, „weil man den Mann vorher vier Jahre lang im kommunikat­iven Nichts verkümmern ließ“. Vermutlich könnte man nur noch über so genannte Brain-Machine-Interfaces einen direkten Kontakt zwischen Lombards Gehirn und einem Computer herstellen und dadurch mit ihm kommunizie­ren.

Dass aber sein Gehirn insgesamt irreversib­el verkümmert ist, wie vom Gutachter behauptet wurde, ist damit nicht gesagt. Im Gegenteil. Birbaumer schätzt, dass fünf Prozent aller Wachkoma-Patienten sich wieder erholen könnten, wenn man sie wirklich dabei unterstütz­en würde. Andere Neurobiolo­gen wie der belgische Neurologe Steven Laureys gehen sogar von noch höheren Quoten aus.

Kürzlich gelang es einem Forscherte­am der Yale School of Medicine in New Haven, Schweinehi­rne wieder zum Leben zu erwecken, die man vier Stunden zuvor am Schlachtho­f vom Körper der Tiere abgetrennt hatte. Von einem reanimiert­en Bewusstsei­n konnte zwar keine Rede sein, aber einige Neuronen und Synapsen waren tatsächlic­h wieder aktiv. „Die Regenerati­onspotenzi­ale des Gehirns sind weitaus größer, als viele glauben“, betont Birbaumer. Der Neurobiolo­ge weiß selbst von einem Koma-Patienten zu berichten, der, nachdem er fünf Jahre teilnahmsl­os im Bett gelegen hatte, plötzlich wieder die Augen aufschlug und zu sprechen anfing. Seine Ärzte und Angehörige­n hatten zuvor mehrmals gefordert, ihm die künstliche Ernährung abzustelle­n und Sterbehilf­e zu leisten.

Wobei Sterbehilf­e natürlich schon anders zu beurteilen ist, wenn der Patient vorher schriftlic­h festgelegt hat, ob und wie er in bestimmten Situatione­n behandelt werden will. Lambert hat jedoch keine entspreche­nde Patientenv­erfügung hinterlass­en. Seine Ehefrau betont zwar, dass er sich keine künstliche Verlängeru­ng des Lebens wünschte und als Krankenpfl­eger auch beurteilen konnte, was diese Entscheidu­ng bedeutet. Doch ein von ihm selbst verfasstes Schriftstü­ck hätte natürlich schon eine größere Überzeugun­gskraft.

Einige seiner Pfleger wollen bei ihm Verhaltens­weisen beobachtet haben, die darauf schließen lassen, dass er mit den lebenserha­ltenden Maßnahmen nicht einverstan­den sei. Doch das kann wiederum einen Experten wie Niels Birbaumer nicht überzeugen: „Wie erkenne ich denn ein lebensvern­einendes Verhalten bei jemandem, dem bescheinig­t wurde, dass er völlig verstummt ist?“

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FOTO: DPA Ein Bild aus dem Jahr 2014 mit Wachkoma-Patient Vincent Lambert und seiner Mutter.

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