Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Als der Wagen nicht kam
Deshalb war entgegen aller Betonung des Führerprinzips und entgegen aller Vernunft das gesamte Hitlerregime, auch auf dem Regierungssektor, darauf aufgebaut, unklare, sich gegenseitig überschneidende Zuständigkeiten zu schaffen, um die möglichen Diadochen untereinander in eifersüchtige Streitigkeiten zu verwickeln. Diese entschied er dann nicht etwa nach Führerprinzip, sondern ließ sie weiterschwären zur Stärkung seiner persönlichen Allgewalt, auch wenn es sachlich noch so schädlich war. Schließlich verbot er sogar, Streitigkeiten an ihn zur Entscheidung heranzubringen.
Entsprechend dieser auf Misstrauen gegründeten Spitzengliederung war auch die personelle Auswahl für den Chef OKW vorgenommen worden. Ein großer herrenmäßiger Soldat wäre für die Stellung schon ihrer Konstruktion nach nicht möglich gewesen. Es musste nach dem aus dem Aufbau sich ergebenden Willen Hitlers eine zwar technisch tüchtige Kraft sein, die sich aber ohne Eigenwillen unterordnete. Ich glaube, dass Hitler in seinem sicheren Gefühl für das Herausfinden menschlicher Schwächen mit Keitel die für seine Zwecke richtige Wahl getroffen hatte.
Meine streiflichtartigen Eindrücke von Keitel decken sich mit dem von der herrschenden Meinung geprägten Bild. Dafür einige Beispiele:
Die Abteilung OKW-Propaganda veranstaltete öfter in dem großen Lichtbildsaal in der Bendlerstraße 10 Vorführungen von feindlichen Beutefilmen für die Offiziere des OKW. Dabei wurde vorher die in allen Kinos laufende deutsche Filmwochenschau gezeigt. In dieser erschien
ein Bildbericht über das Eintreffen Hitlers bei irgendeinem militärischen Anlass. Zunächst sah man Keitel wartend vor einem ausgebreiteten Teppich dastehen in voller Montur und imposanter Haltung mit dem Feldmarschallstab stolz in der Hand, alles genau so herausgebracht, wie der Soldat sich seinen siegreichen Feldherrn vorzustellen hat. Dann kam in zügigem Tempo der Wagen Hitlers angefahren, hielt aber nicht bei Feldherr und Teppich, fuhr vielmehr aus irgendeinem Grunde etwa 50 Meter weiter. Während die übrigen Offiziere ruhig stehen bleiben, läuft Keitel nun in seiner massigen, nicht auf Dauerlauf trainierten Gestalt hinter dem Auto her, erreicht dies auch noch gerade im Halten, öffnet Hitler den Wagenschlag und klemmt zu diesem Zweck den Feldmarschallstab unter den Arm. Hitler aber steigt mit Imperatorenmiene aus dem Wagen. In diesem Augenblick durchbrauste den verdunkelten, nur mit Offizieren des OKW gefüllten Saal ein Sturm allgemeinen Gelächters. Die dadurch bekundete Meinung über den Charakter des gemeinsamen Vorgesetzten war abfälliger, als eine Kritik in Worten es je hätte ausdrücken können. Lachen durfte man bei der Wehrmacht noch, wenigstens im Dunkeln.
Die Vorführungen von Wehrmacht-Propaganda wurden allerdings bald darauf eingestellt. Manche schrieben dies dem eben erwähnten Vorfall zu, andere wieder folgendem Anlass, bei dem es sich um eine erbeutete englische Filmwochenschau handelte. In dieser wurde eine Reise Churchills nach Kanada gezeigt. Zunächst klettert ein kleiner dicker Mann in einer Art von Monteuranzug steifbeinig auf ein Kriegsschiff. Bei der Ankunft in Kanada steht auf dem Pier für ihn ein zierliches altmodisches eisernes Gartenstühlchen bereit, auf das er sich gegenüber einer Horde von Bildreportern hinsetzt, indem er grinsend über das Missverhältnis zwischen der Sitzgelegenheit und seiner massigen Figur an sich hinunterblickt. Dann setzt er spöttisch lachend mal das rechte, mal das linke Bein zwecks Posenwechsels vor, mal zieht er den Reißverschluss des Overalls auf, mal schließt er ihn und treibt sonstigen Schabernack mit den Bildreportern. Als er in Montreal wohlangezogen auf den Balkon vor die frenetisch jubelnde Menge tritt, grüßt er zunächst mit seinem grauen Zylinder, dann schwenkt er ihn hoch in der Luft und schließlich steckt er ihn auf seinen Stock und hebt ihn auf und nieder. Das war alles so unaussprechlich menschlich und natürlich, dass sich von selbst der Gegenvergleich mit der tödlichen Steifheit und gemachten Unnahbarkeit Hitlers anbot. Ein allgemein fröhlich zustimmendes Lachen und Schwatzen ging durch den Saal, so dass selbst Wehrmacht-Propaganda es merken musste, dass schon wieder ein Propagandamissgriff mit Churchill geschehen war, wie vorher mit Keitel.
Ein merkwürdiges Erlebnis hatte ich mit Keitel, das für seine Geisteshaltung aufschlussreich ist. Göring war in seinem prahlerischen Bestreben, zur Verdeckung seiner Unfähigkeit in der Luftwaffenführung sich auf allen erdenklichen andern Gebieten geschäftig zu machen, während des Krieges auf den Gedanken gekommen, im Wege des Vierjahresplans alles land- und forstwirtschaftlich nutzfähige Land der öffentlichen Hand unter seine Verfügungsgewalt zu bringen zwecks vorgeblich besserer Bewirtschaftung. Er hatte einen Entwurf für einen Führererlass vorbereitet, der ihm diese Befugnis zusprach. Als dieser bei Chef OKW zur Einholung von dessen kriegsministerieller Zustimmung einging, versah ich ihn mit einer Vortragsnotiz für Keitel in ablehnendem Sinne, weil es für die Wehrmacht unerträglich sei, wenn wehrmachteigene Grundstücke, in erster Linie Truppenübungsplätze oder Versuchsgelände, dem Zugriff ziviler Behörden ausgesetzt würden. Als ich die Sache nach Wolfsschanze herausschickte, wusste ich vorher, dass ich ihn nicht mit Keitels zustimmender Paraphierung zurückerhalten würde, weil er ängstlich bestrebt war, mit Göring nicht in Konflikt zu geraten. Anderseits wusste Keitel natürlich, dass Heer und Marine Lärm machen würden, wenn der Erlass seine Zustimmung erhielte. Keitel traf also keine Entscheidung, sondern schrieb mit seinem Rotstift auf die Sache den Buchstaben „V“, was bedeutete, dass ich ihm mündlich Vortrag darüber halten sollte.
Ich fuhr also nach Wolfsschanze und meldete mich bei ihm in seiner Baracke, die nahe bei Hitlers Bunker lag. Ich wurde freundlicher begrüßt, als es einem Rittmeister d. R. gegenüber einem Feldmarschall zugestanden hätte, und mit einer Zigarette versehen. Er war eben von Natur gutmütig und fühlte sich in der Rolle des wohlmeinenden Vorgesetzten wohl.