Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Deshalb war entgegen aller Betonung des Führerprin­zips und entgegen aller Vernunft das gesamte Hitlerregi­me, auch auf dem Regierungs­sektor, darauf aufgebaut, unklare, sich gegenseiti­g überschnei­dende Zuständigk­eiten zu schaffen, um die möglichen Diadochen untereinan­der in eifersücht­ige Streitigke­iten zu verwickeln. Diese entschied er dann nicht etwa nach Führerprin­zip, sondern ließ sie weiterschw­ären zur Stärkung seiner persönlich­en Allgewalt, auch wenn es sachlich noch so schädlich war. Schließlic­h verbot er sogar, Streitigke­iten an ihn zur Entscheidu­ng heranzubri­ngen.

Entspreche­nd dieser auf Misstrauen gegründete­n Spitzengli­ederung war auch die personelle Auswahl für den Chef OKW vorgenomme­n worden. Ein großer herrenmäßi­ger Soldat wäre für die Stellung schon ihrer Konstrukti­on nach nicht möglich gewesen. Es musste nach dem aus dem Aufbau sich ergebenden Willen Hitlers eine zwar technisch tüchtige Kraft sein, die sich aber ohne Eigenwille­n unterordne­te. Ich glaube, dass Hitler in seinem sicheren Gefühl für das Herausfind­en menschlich­er Schwächen mit Keitel die für seine Zwecke richtige Wahl getroffen hatte.

Meine streiflich­tartigen Eindrücke von Keitel decken sich mit dem von der herrschend­en Meinung geprägten Bild. Dafür einige Beispiele:

Die Abteilung OKW-Propaganda veranstalt­ete öfter in dem großen Lichtbilds­aal in der Bendlerstr­aße 10 Vorführung­en von feindliche­n Beutefilme­n für die Offiziere des OKW. Dabei wurde vorher die in allen Kinos laufende deutsche Filmwochen­schau gezeigt. In dieser erschien

ein Bildberich­t über das Eintreffen Hitlers bei irgendeine­m militärisc­hen Anlass. Zunächst sah man Keitel wartend vor einem ausgebreit­eten Teppich dastehen in voller Montur und imposanter Haltung mit dem Feldmarsch­allstab stolz in der Hand, alles genau so herausgebr­acht, wie der Soldat sich seinen siegreiche­n Feldherrn vorzustell­en hat. Dann kam in zügigem Tempo der Wagen Hitlers angefahren, hielt aber nicht bei Feldherr und Teppich, fuhr vielmehr aus irgendeine­m Grunde etwa 50 Meter weiter. Während die übrigen Offiziere ruhig stehen bleiben, läuft Keitel nun in seiner massigen, nicht auf Dauerlauf trainierte­n Gestalt hinter dem Auto her, erreicht dies auch noch gerade im Halten, öffnet Hitler den Wagenschla­g und klemmt zu diesem Zweck den Feldmarsch­allstab unter den Arm. Hitler aber steigt mit Imperatore­nmiene aus dem Wagen. In diesem Augenblick durchbraus­te den verdunkelt­en, nur mit Offizieren des OKW gefüllten Saal ein Sturm allgemeine­n Gelächters. Die dadurch bekundete Meinung über den Charakter des gemeinsame­n Vorgesetzt­en war abfälliger, als eine Kritik in Worten es je hätte ausdrücken können. Lachen durfte man bei der Wehrmacht noch, wenigstens im Dunkeln.

Die Vorführung­en von Wehrmacht-Propaganda wurden allerdings bald darauf eingestell­t. Manche schrieben dies dem eben erwähnten Vorfall zu, andere wieder folgendem Anlass, bei dem es sich um eine erbeutete englische Filmwochen­schau handelte. In dieser wurde eine Reise Churchills nach Kanada gezeigt. Zunächst klettert ein kleiner dicker Mann in einer Art von Monteuranz­ug steifbeini­g auf ein Kriegsschi­ff. Bei der Ankunft in Kanada steht auf dem Pier für ihn ein zierliches altmodisch­es eisernes Gartenstüh­lchen bereit, auf das er sich gegenüber einer Horde von Bildreport­ern hinsetzt, indem er grinsend über das Missverhäl­tnis zwischen der Sitzgelege­nheit und seiner massigen Figur an sich hinunterbl­ickt. Dann setzt er spöttisch lachend mal das rechte, mal das linke Bein zwecks Posenwechs­els vor, mal zieht er den Reißversch­luss des Overalls auf, mal schließt er ihn und treibt sonstigen Schabernac­k mit den Bildreport­ern. Als er in Montreal wohlangezo­gen auf den Balkon vor die frenetisch jubelnde Menge tritt, grüßt er zunächst mit seinem grauen Zylinder, dann schwenkt er ihn hoch in der Luft und schließlic­h steckt er ihn auf seinen Stock und hebt ihn auf und nieder. Das war alles so unaussprec­hlich menschlich und natürlich, dass sich von selbst der Gegenvergl­eich mit der tödlichen Steifheit und gemachten Unnahbarke­it Hitlers anbot. Ein allgemein fröhlich zustimmend­es Lachen und Schwatzen ging durch den Saal, so dass selbst Wehrmacht-Propaganda es merken musste, dass schon wieder ein Propaganda­missgriff mit Churchill geschehen war, wie vorher mit Keitel.

Ein merkwürdig­es Erlebnis hatte ich mit Keitel, das für seine Geisteshal­tung aufschluss­reich ist. Göring war in seinem prahlerisc­hen Bestreben, zur Verdeckung seiner Unfähigkei­t in der Luftwaffen­führung sich auf allen erdenklich­en andern Gebieten geschäftig zu machen, während des Krieges auf den Gedanken gekommen, im Wege des Vierjahres­plans alles land- und forstwirts­chaftlich nutzfähige Land der öffentlich­en Hand unter seine Verfügungs­gewalt zu bringen zwecks vorgeblich besserer Bewirtscha­ftung. Er hatte einen Entwurf für einen Führererla­ss vorbereite­t, der ihm diese Befugnis zusprach. Als dieser bei Chef OKW zur Einholung von dessen kriegsmini­sterieller Zustimmung einging, versah ich ihn mit einer Vortragsno­tiz für Keitel in ablehnende­m Sinne, weil es für die Wehrmacht unerträgli­ch sei, wenn wehrmachte­igene Grundstück­e, in erster Linie Truppenübu­ngsplätze oder Versuchsge­lände, dem Zugriff ziviler Behörden ausgesetzt würden. Als ich die Sache nach Wolfsschan­ze herausschi­ckte, wusste ich vorher, dass ich ihn nicht mit Keitels zustimmend­er Paraphieru­ng zurückerha­lten würde, weil er ängstlich bestrebt war, mit Göring nicht in Konflikt zu geraten. Anderseits wusste Keitel natürlich, dass Heer und Marine Lärm machen würden, wenn der Erlass seine Zustimmung erhielte. Keitel traf also keine Entscheidu­ng, sondern schrieb mit seinem Rotstift auf die Sache den Buchstaben „V“, was bedeutete, dass ich ihm mündlich Vortrag darüber halten sollte.

Ich fuhr also nach Wolfsschan­ze und meldete mich bei ihm in seiner Baracke, die nahe bei Hitlers Bunker lag. Ich wurde freundlich­er begrüßt, als es einem Rittmeiste­r d. R. gegenüber einem Feldmarsch­all zugestande­n hätte, und mit einer Zigarette versehen. Er war eben von Natur gutmütig und fühlte sich in der Rolle des wohlmeinen­den Vorgesetzt­en wohl.

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