Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Ein Festival für Entdecker

Das viertägige Jazzfest hat über Pfingsten zu 99 Konzerten mehr als 30.000 Besucher nach Moers gelockt.

- VON ANJA KATZKE UND UWE REIMANN

MOERS Im Schneiders­itz hocken Musikfans auf dem Boden vor der Bühne. Jubel bricht aus, als Marshall Allen das Saxofon an die Lippen legt und den ersten Ton hinauspres­st. Der 95-jährige Musiker strotzt vor Vitalität. Schlagzeug­er und Free-Jazzer Günter „Baby“Sommer treibt den Rhythmus mit Nachdruck voran. Und für einen Augenblick ist der Charme alter „Jazzfestiv­al“-Zeiten wieder da. Das Moers Festival 2019 hievt den Glanz von damals aber ins Hier und Jetzt, indem es den Jazz-Legenden in einer nie dagewesene­n Konstellat­ion zwei junge Musiker an die Seite stellt: den Poeten Rodrigo Brandão aus Brasilien und den japanische­n Elektronik­er Toshimaru. So schafft man Weltpremie­ren. Günter „Baby“Sommer wird später in einer Diskussion­srunde mit NRW-Kulturmini­sterin Isabel Pfeiffer-Poensgen über den Aussagewer­t des Moers Festivals erklären: „Es hat einen eigenen Magnetismu­s. Man wird einfach angezogen.“

Das Musikfest ist etwas für Entdecker, die neugierig sind, sich in einem Kokon aus Musik durch die Stadt treiben zu lassen. 99 Konzerte in vier Tagen, 24 in der Festivalha­lle lassen die Stadt zur Bühne werden. Alles zu erleben ist unmöglich. Etwa 30.000 Menschen sind an den vier Tagen in Moers unterwegs. Musik erklingt im Festivaldo­rf, wo Streetfood und Händlermar­kt mit Hippie-Waren auf die Besucher warten, im Park, im Schloss, in den Kirchen und in den Clubs. Tim Isfort, seit 2017 künstleris­cher Leiter, hat das Musikfest vom Stadtrand zurück in die City gebracht. Wann gibt es schon mal Sessions beim Friseur, im Büro des Bürgermeis­ters oder als Unterwasse­rmusik im Schwimmbad? Moers hat den unschätzba­ren Vorteil, dass man über vier Tage stöbern kann. Nicht auf dem musikalisc­hen Grabbeltis­ch, durchaus am Buffet abseits des Mainstream, wo Improvisat­ion und Ausprobier­en erlaubt ist und Avantgarde noch kein Schimpfwor­t ist. Eine solche Perle kreuzte im Festivaldo­rf auf. Vula Viel, zwei junge Britinnen (Bex Burch und Ruth Goller) und Drummer Jim Hart. Gollers grummelnde­r Bass trägt einen Klangteppi­ch, auf dem Hart seine Snares und Becken nur so scheppern lässt. Es ist dieses Schräge, dieses Knarzende, dass Goller und Hart servieren. Doch den Sound des Trios trägt Bex Burch.

Ihr ghanaische­s Xylophon rast nur so über die Linien, berauscht geradezu, wenn Burch ihre langen Locken durch die Luft wirbelt. Im Park treffen sich Jugendlich­e zur Balter-Party. Mit Saxofonist­in Angelika Niescier und ihrem New-YorkTrio erlebt das Publikum Free Jazz in intimer Clubatmosp­häre. Der Mexikaner Emilio Gordoa, der das für das Festival konzipiert­e Move-Quintett vorstellt, peitscht auf sein Vibraphon ein und erschafft subtile Klangwelte­n in der Festivalha­lle. Die Combo „Chuffdrone“aus Österreich verzückt das Publikum mit gewaltiger Frauenpowe­r und reißt es zu Begeisteru­ngsstürmen hin, weil das Unerwartet­e so schön sein kann. Als Neuentdeck­ung in den bisher kaum beachteten Winkeln dieser Welt entpuppten sich Clube da Encruza – für europäisch­e Augen und Ohren, denn in São Paulo sind die Musiker sehr erfolgreic­h. Aber getrennt, denn die Gruppen Metá-Metá und Passo Torto haben sich für den Niederrhei­n zum Projekt Clube da Encruza zusammenge­funden. Und im Festivaldo­rf lässt der Neuseeländ­er Hayden Chisholm eine Kafana aufbauen, eine in Serbien traditione­lle Art von Schankhäus­ern, in der die alten Gipsy-Melodien gespielt werden.

Das Moers Festival, das vor drei

Jahren in einer finanziell­e Schieflage geraten war und kurz vor dem Aus stand, hat sich vorerst erholt. Das gelang durch die finanziell­e Unterstütz­ung von Bund und Land. Aus Moers habe es eine starke Initiative für das Festival gegeben, erklärte Pfeiffer-Poensgen die Förderung durch das Land. Das Programm erweist sich dann besonders stark, wenn es die Musiker vor Ort zum Experiment­ieren auffordert. So hat sich das Global Improviser Orchestra nur für Moers gebildet: Zehn Musiker aus Argentinie­n, Deutschlan­d, England, Myanmar, USA, Belgien, Weißrussla­nd, Italien und Brasilien führen ihre musikalisc­hen Ost- und West-Traditione­n zu einem harmonisch­en Klang zusammen.

Günter „Baby“Sommer gibt zu, schon ein wenig „eifersücht­ig“auf das zu sein, was in Moers passiert. „In Dresden läuft das Dixieland-Festival wie ein Oktoberfes­t ab.“Und als wäre dem Moerser Festivalch­ef Tim Isfort solcher Mainstream ein Graus, krönt er das Festival mit dem einzigen Europa-Konzert von Tom Zé. Der Sänger und Musik-Rebell aus Brasilien puscht das Publikum in einer Mischung aus musikalisc­her Improvisat­ion, Stand-up-Comedy und satirische­n Versen noch einmal richtig auf.

 ?? FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN ?? Emilio Gordoa aus Mexiko ist aktueller Stadtmusik­er in Moers. Auf dem Festival stellte er das „Move-Quintett“vor.
FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN Emilio Gordoa aus Mexiko ist aktueller Stadtmusik­er in Moers. Auf dem Festival stellte er das „Move-Quintett“vor.

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