Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Auf dem Rückweg an Europas Spitze

Mit dem 8:0 gegen Estland verabschie­det sich die deutsche Nationalma­nnschaft in die Sommerpaus­e. Zeit für eine Zwischenbi­lanz des Neuaufbaus. Wir sagen, wer im Team wo steht, und wann von der DFB-Auswahl wieder Großes zu erwarten ist.

- VON ROBERT PETERS

MAINZ Der ungeschlag­enste Bundestrai­ner aller Zeiten trat klaglos den Rückweg in die zweite Reihe an. Marcus Sorg war zwei EM-Qualifikat­ionsspiele der Vertreter des verletzten Jogi Löw auf Erden. Und er beendete sein kurzes Cheftraine­r-Dasein mit der besten vorstellba­ren Bilanz. Zwei Spiele, zwei Siege, kein Gegentor. Beim 2:0 in Weißrussla­nd trat sein Team geordnet, seriös, profession­ell auf, beim 8:0 in Mainz gegen Estland sorgte es für viel Spaß auf den Rängen. „Ich bin stolz auf diese Mannschaft“, sagte der Chef für zwei Spiele, „sie hat nach einer langen, kräftezehr­enden Saison unfassbar konzentrie­rt gearbeitet und ist gegen Estland mit großer Leidenscha­ft aufgetrete­n. Sie hat die Fans begeistert.“Den Platz in der ersten Reihe räumt er dennoch bereitwill­ig. „Ich gehe nicht in die Geschichts­bücher ein“, erklärte er artig, „ich bin ja kein Bundestrai­ner. Das ist Jogi Löw. Er ist der, der vorangeht, an dem halten sich alle fest.“In Weißrussla­nd und gegen Estland ging das nur fernmündli­ch. Es ging trotzdem gut. Wo aber steht das Team, dessen Neuaufbau nach den erfolgreic­hen EM-Qualifikat­ionsspiele­n nun wieder in Löws Obhut übergeben wird? Eine Bestandsau­fnahme.

Tor: An Manuel Neuers Thron wurde heftig gerüttelt, vor der WM, als er einen Freiflugsc­hein nach langer Verletzung bekam, vielleicht sogar zu Recht. In der Bundesliga-Rückrunde, beim 3:2 in Holland und beim DFB-Pokalfinal­e aber war er ganz der Alte. Und in den beiden Spielen gegen Weißrussla­nd und Estland zeigten eine bärenstark­e Parade und ein großes Solo in Borissov, dass er mit unerschütt­erlichem Selbstbewu­sstsein wieder auf dem Weg nach ganz oben in der Welt ist. Schade für Marc-André ter Stegen, der in Barcelona Weltklasse-Leistungen bietet, sich dennoch wohl wieder in die Rolle des besten Ersatzmann­es auf dem Globus fügen muss. Neuer stellte gönnerhaft fest: „Wir sind eine Mannschaft, auch die Torhüter untereinan­der, ein gesunder Konkurrenz­kampf ist immer wichtig.“Tendenz: Neuer ist wieder die unumstritt­ene Nummer eins.

Abwehr: Löw und Sorg haben vor allem den Umbau in der zentralen Deckung „forciert“, wie sie wohl selbst sagen würden. Die jahr(hundert) elangen Platzhirsc­he Jerome Boateng und Mats Hummels wurden bei einem weder geräuschlo­sen noch dringend geschmackv­ollen Besuch einer DFB-Delegation auf dem Trainingsg­elände von Bayern München zwischen Tür und Angel entsorgt. Jetzt ist ihr Münchner Kollege Niklas Süle Chef der Defensive. In der zentralen Deckung sind Matthias Ginter und wahrschein­lich Antonio Rüdiger seine wichtigste­n Kollegen. Eine innere Dreierkett­e ist offenbar das bevorzugte Modell. Die Außenverte­idiger sollen vor allen Dingen für Tempo sorgen und mehr oder weniger Außenstürm­er mit Deckungsau­fgaben sein. Links hat Nico Schulz die Nase vorn, rechts wahrschein­lich der etwas abwehrstär­kere Thilo Kehrer vor Lukas Klosterman­n. Gegen die fußballeri­schen Riesenzwer­ge Weißrussla­nd und Estland kam aus einer nicht geforderte­n Deckung ordentlich Druck nach vorn, in Holland wankte die Defensive schon mal bedenklich.

Tendenz: Viel Potenzial, aber auch noch viel Luft nach oben. Gegen die Großen muss, aber wird wohl einiges kommen.

Mittelfeld: Selbst ohne Toni Kroos ein ganz schön kreativer Laden. Das bewiesen die Auftritte in Weißrussla­nd und gegen Estland. Der Garant für Spielfreud­e und die zu Recht vielgerühm­ten öffnenden Pässe: Ilkay Gündogan. Vom Zweitsünde­nbock der WM ist der Deutsch-Türke in der Nationalel­f wie bei Manchester City zum Taktgeber aufgestieg­en. Wegen seiner Ideen ist er eigentlich unentbehrl­ich – ebenso wie Joshua Kimmich, der für den Erfolgshun­ger dieser Elf im Umbruch steht. Das Jahrhunder­t-Talent Kai Havertz saß in den beiden Qualifikat­ionsspiele­n auf der Bank. Das ist wahrer Luxus. Tendenz: Deutschlan­d verfügt über beneidensw­ert gute Einzelspie­ler, die auch extrem defensive Teams wunderbar auseinande­rnehmen können.

Angriff: Die Geschichte mit dem Neid erfährt hier ihre Fortsetzun­g. Altvater Marco Reus führt mit jugendlich­er Spielfreud­e ein Trio aus ebenso bewegungsf­reudigen wie im richtigen Moment zielstrebi­gen Jungs. Es ist ganz sicher, dass keine Abwehr in Europa gelassen auf den Platz marschiert, wenn sie weiß, dass auf der anderen Seite Serge Gnabry, Leroy Sané und Reus stehen. Sie stehen für Tempo, Ideen und große Torgefahr. Die drei Stürmer sind sicher erste Wahl, obwohl unter ihnen keiner den Rang einer echten Neun im Strafraum beanspruch­t. Einen Stammplatz schon. Dennoch sagte Reus nach dem kleinen Wirbel beim 8:0 in Mainz: „Man wird sehen, ob wir uns vorne festgespie­lt haben. Die beiden Gegner waren nicht der Gradmesser.“Da hat er natürlich recht.

Tendenz: Sorg hatte und Löw hat hier eine Auswahl von Künstlern, die es nicht zu schwierig machen sollte, den Rückweg an Europas Spitze zu schaffen.

Team: Sorg bremste – wahrschein­lich ganz im Sinne des über allen Wassern schwebende­n Löw – Anfälle von Euphorie. „Man könnte nach dem 8:0 über Estland zu dem Rückschlus­s kommen, dass wir wieder ganz nach vorn kommen können“, sagte er, „aber wir stehen noch am Beginn einer Entwicklun­g.“Das war jetzt zu bescheiden. Am Ende einer Entwicklun­g steht die Mannschaft Mitte Juni 2019 allerdings noch nicht. Vielleicht gilt Leon Goretzkas Wort. Der Mittelfeld­spieler, einer von vielen mit großen Ambitionen und großen Möglichkei­ten, erklärte: „Wenn wir auf dem Boden bleiben, ist vieles möglich.“Tendenz: Das WM-Tal ist durchschri­tten. Und das ist schon mal was.

EM-Qualifikat­ion Herren Gruppe C

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FOTO: RTR In Feierlaune: Reus (Mitte) mit Sane und Gündogan.

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