Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Auf dem Rückweg an Europas Spitze
Mit dem 8:0 gegen Estland verabschiedet sich die deutsche Nationalmannschaft in die Sommerpause. Zeit für eine Zwischenbilanz des Neuaufbaus. Wir sagen, wer im Team wo steht, und wann von der DFB-Auswahl wieder Großes zu erwarten ist.
MAINZ Der ungeschlagenste Bundestrainer aller Zeiten trat klaglos den Rückweg in die zweite Reihe an. Marcus Sorg war zwei EM-Qualifikationsspiele der Vertreter des verletzten Jogi Löw auf Erden. Und er beendete sein kurzes Cheftrainer-Dasein mit der besten vorstellbaren Bilanz. Zwei Spiele, zwei Siege, kein Gegentor. Beim 2:0 in Weißrussland trat sein Team geordnet, seriös, professionell auf, beim 8:0 in Mainz gegen Estland sorgte es für viel Spaß auf den Rängen. „Ich bin stolz auf diese Mannschaft“, sagte der Chef für zwei Spiele, „sie hat nach einer langen, kräftezehrenden Saison unfassbar konzentriert gearbeitet und ist gegen Estland mit großer Leidenschaft aufgetreten. Sie hat die Fans begeistert.“Den Platz in der ersten Reihe räumt er dennoch bereitwillig. „Ich gehe nicht in die Geschichtsbücher ein“, erklärte er artig, „ich bin ja kein Bundestrainer. Das ist Jogi Löw. Er ist der, der vorangeht, an dem halten sich alle fest.“In Weißrussland und gegen Estland ging das nur fernmündlich. Es ging trotzdem gut. Wo aber steht das Team, dessen Neuaufbau nach den erfolgreichen EM-Qualifikationsspielen nun wieder in Löws Obhut übergeben wird? Eine Bestandsaufnahme.
Tor: An Manuel Neuers Thron wurde heftig gerüttelt, vor der WM, als er einen Freiflugschein nach langer Verletzung bekam, vielleicht sogar zu Recht. In der Bundesliga-Rückrunde, beim 3:2 in Holland und beim DFB-Pokalfinale aber war er ganz der Alte. Und in den beiden Spielen gegen Weißrussland und Estland zeigten eine bärenstarke Parade und ein großes Solo in Borissov, dass er mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein wieder auf dem Weg nach ganz oben in der Welt ist. Schade für Marc-André ter Stegen, der in Barcelona Weltklasse-Leistungen bietet, sich dennoch wohl wieder in die Rolle des besten Ersatzmannes auf dem Globus fügen muss. Neuer stellte gönnerhaft fest: „Wir sind eine Mannschaft, auch die Torhüter untereinander, ein gesunder Konkurrenzkampf ist immer wichtig.“Tendenz: Neuer ist wieder die unumstrittene Nummer eins.
Abwehr: Löw und Sorg haben vor allem den Umbau in der zentralen Deckung „forciert“, wie sie wohl selbst sagen würden. Die jahr(hundert) elangen Platzhirsche Jerome Boateng und Mats Hummels wurden bei einem weder geräuschlosen noch dringend geschmackvollen Besuch einer DFB-Delegation auf dem Trainingsgelände von Bayern München zwischen Tür und Angel entsorgt. Jetzt ist ihr Münchner Kollege Niklas Süle Chef der Defensive. In der zentralen Deckung sind Matthias Ginter und wahrscheinlich Antonio Rüdiger seine wichtigsten Kollegen. Eine innere Dreierkette ist offenbar das bevorzugte Modell. Die Außenverteidiger sollen vor allen Dingen für Tempo sorgen und mehr oder weniger Außenstürmer mit Deckungsaufgaben sein. Links hat Nico Schulz die Nase vorn, rechts wahrscheinlich der etwas abwehrstärkere Thilo Kehrer vor Lukas Klostermann. Gegen die fußballerischen Riesenzwerge Weißrussland und Estland kam aus einer nicht geforderten Deckung ordentlich Druck nach vorn, in Holland wankte die Defensive schon mal bedenklich.
Tendenz: Viel Potenzial, aber auch noch viel Luft nach oben. Gegen die Großen muss, aber wird wohl einiges kommen.
Mittelfeld: Selbst ohne Toni Kroos ein ganz schön kreativer Laden. Das bewiesen die Auftritte in Weißrussland und gegen Estland. Der Garant für Spielfreude und die zu Recht vielgerühmten öffnenden Pässe: Ilkay Gündogan. Vom Zweitsündenbock der WM ist der Deutsch-Türke in der Nationalelf wie bei Manchester City zum Taktgeber aufgestiegen. Wegen seiner Ideen ist er eigentlich unentbehrlich – ebenso wie Joshua Kimmich, der für den Erfolgshunger dieser Elf im Umbruch steht. Das Jahrhundert-Talent Kai Havertz saß in den beiden Qualifikationsspielen auf der Bank. Das ist wahrer Luxus. Tendenz: Deutschland verfügt über beneidenswert gute Einzelspieler, die auch extrem defensive Teams wunderbar auseinandernehmen können.
Angriff: Die Geschichte mit dem Neid erfährt hier ihre Fortsetzung. Altvater Marco Reus führt mit jugendlicher Spielfreude ein Trio aus ebenso bewegungsfreudigen wie im richtigen Moment zielstrebigen Jungs. Es ist ganz sicher, dass keine Abwehr in Europa gelassen auf den Platz marschiert, wenn sie weiß, dass auf der anderen Seite Serge Gnabry, Leroy Sané und Reus stehen. Sie stehen für Tempo, Ideen und große Torgefahr. Die drei Stürmer sind sicher erste Wahl, obwohl unter ihnen keiner den Rang einer echten Neun im Strafraum beansprucht. Einen Stammplatz schon. Dennoch sagte Reus nach dem kleinen Wirbel beim 8:0 in Mainz: „Man wird sehen, ob wir uns vorne festgespielt haben. Die beiden Gegner waren nicht der Gradmesser.“Da hat er natürlich recht.
Tendenz: Sorg hatte und Löw hat hier eine Auswahl von Künstlern, die es nicht zu schwierig machen sollte, den Rückweg an Europas Spitze zu schaffen.
Team: Sorg bremste – wahrscheinlich ganz im Sinne des über allen Wassern schwebenden Löw – Anfälle von Euphorie. „Man könnte nach dem 8:0 über Estland zu dem Rückschluss kommen, dass wir wieder ganz nach vorn kommen können“, sagte er, „aber wir stehen noch am Beginn einer Entwicklung.“Das war jetzt zu bescheiden. Am Ende einer Entwicklung steht die Mannschaft Mitte Juni 2019 allerdings noch nicht. Vielleicht gilt Leon Goretzkas Wort. Der Mittelfeldspieler, einer von vielen mit großen Ambitionen und großen Möglichkeiten, erklärte: „Wenn wir auf dem Boden bleiben, ist vieles möglich.“Tendenz: Das WM-Tal ist durchschritten. Und das ist schon mal was.
EM-Qualifikation Herren Gruppe C