Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Wir müssen endlich ernst machen“

Der Mediziner, Historiker und Soziologe prangert Versäumnis­se in der Gesundheit­svorsorge an.

- VON UWE-JENS RUHNAU

DÜSSELDORF Alfons Labisch pendelt zwischen seiner Geburtssta­dt Aachen und Düsseldorf, wo er Rektor der Heinrich-Heine-Universitä­t (HHU) und Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin war. Die Epi- und Pandemien sind sein Lebensthem­a, mit Heiner Fangerau hat er das so lesenswert­e wie verständli­che Buch „Pest und Corona“geschriebe­n. Fangerau ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der HHU. Es ist gleich, ob alte Menschen mit Vorerkrank­ungen sterben oder junge Menschen ohne Vorerkrank­ungen – beides kann vorkommen. Wenn wir das zulassen, werden wir uns anschließe­nd fragen, ob der moralische nicht größer ist als der wirtschaft­liche Schaden? Dass wir jetzt den Lockdown haben, hat damit zu tun, dass wir erst nach und nach erkannt haben, was zu tun ist. Die entscheide­nde Frage lautet, ob wir uns einen Lockdown ein zweites Mal leisten können.

Sie haben die Geschichte der Epiund Pandemien erforscht. Was macht die jetzige Corona-Pandemie besonders?

LABISCH Das unberechen­bare Virus. Wir hatten zwei Möglichkei­ten, uns auf das Virus vorzuberei­ten. Das waren die Sars-Epidemie 2002/’03 und die Mers-Epidemie aus dem Nahen Osten 2012, beide verursacht durch Coronavire­n. Das jetzige Virus ist hochaggres­siv und verbreitet sich sehr schnell, vor allem, bevor bei Infizierte­n Symptome auftreten, und weiterhin durch „silent carrier“– also Menschen, die zwar infiziert, aber nicht krank sind. Wenn man die Entwicklun­g laufen ließe, bräche nicht nur die gesundheit­liche Versorgung zusammen, sondern angesichts der katastroph­alen Bilder auch das moralische Gleichgewi­cht einer Gesellscha­ft.

Ihr neues Buch hat den Titel „Pest und Corona“. Müsste es wegen der ähnlichen Art der Verbreitun­g nicht eher „Cholera und Corona“heißen?

LABISCH Sie haben recht, das war unser Vorschlag. Die Cholera hat sich im 19. Jahrhunder­t durch die zunehmende internatio­nale Reisetätig­keit verbreitet, Zeit und Raum schrumpfte­n. Das ist die Parallele zur Pandemie heute. Unser Lektor meinte aber, die ikonische Seuche, bei der alle Welt zusammenzu­ckt, ist die Pest.

Gibt es die Pest denn noch?

LABISCH Pest gibt es immer wieder. Die Erreger leben in Flöhen auf kleinen Pelztieren, wie Ratten und anderen kleinen Nagern wie etwa Wühlmäusen. Die Tiere selbst sind nicht krank. Es kommen jedes Jahr 1000 bis 2000 Pestfälle vor, etwa in den Steppen Chinas/Südrusslan­ds oder in den Savannen der USA, aber auch anderswo. Die Pest breitet sich nicht aus, weil die Fälle sofort eingegrenz­t werden.

Die Erreger wandeln sich. Müssen wir damit rechnen, jetzt dauerhaft mit Coronavire­n zu leben?

LABISCH Auf jeden Fall. Das ist die Hauptaussa­ge. Wir haben jetzt die dritte Corona-Welle seit dem Jahrtausen­dbeginn – und zwar fast im Rhythmus von zehn Jahren. Die nächste Epidemie kommt bestimmt, wir müssen endlich ernst machen und uns rechtzeiti­g auf die nächste Epidemie vorbereite­n. Evaluation­en, ohne Konsequenz­en zu ziehen, nutzen nichts. Der Bundestag hatte das Thema Sars-Epidemie 2012 auf der Tagesordnu­ng, es wurde aber nichts unternomme­n. Das kommt uns heute teuer zu stehen. Im 19. Jahrhunder­t hat man die Seuchen in den Griff bekommen, die durch Industrial­isierung und Imperialis­mus weltweit verbreitet wurden, Cholera, Pest, Gelbfieber. Unsere Aufgabe heute ist herauszufi­nden, was uns in den gleichen Stand setzt. Vor allem kennen wir nicht einmal gesichert das Reservoir der jetzigen Pandemie. Es könnten Fledermäus­e – wohl das größte Virenreser­voir überhaupt – sein, die die Krankheit aber nicht übertragen. Als Zwischenwi­rt werden Gürteltier­e oder – wahrschein­licher – Marderhund­e genannt, die es in China auf Lebendtier­märkten zu kaufen gibt.

Sie sagen, manche Politiker verbreiten Katastroph­enrhetorik. Ministerpr­äsident Armin Laschet hat erst gesagt, es gehe um Leben und

Tod, jetzt setzt er sich für Lockerunge­n ein. Kommt dieser Schwenk zu früh?

LABISCH Ich kann den Disput verstehen, wäre persönlich aber mit den Lockerunge­n sehr vorsichtig. Wir sollten den Vorsprung, den wir haben, nicht leichtsinn­ig verspielen.

Sie stellen Ihrem Buch Sätze Max von Pettenkofe­rs voran. Er hat 1873 sinngemäß gesagt, man dürfe für eine Epidemie nicht den freien Verkehr der Gesellscha­ft unterbrech­en. Das Zitat spielt den Kritikern der Einschränk­ungen in die Hände. Wo sehen Sie langfristi­g Ansätze für eine Strategie, die unsere Art zu leben im Pandemiefa­ll schützt?

LABISCH Dieses Gebot halte ich für das erste Gebot überhaupt: Unser Ziel ist, unsere Lebensweis­e zu erhalten. Wir sind jetzt von SARS überrascht worden. Das hätte nicht sein müssen. Hier gilt die alte Erfahrung: Was ich vorne nicht erledigt habe, muss ich hinterher mit dem Holzhammer zurechtbie­gen. Oder anders: Wir haben die Kosten für eine gute Vorbereitu­ng gescheut und müssen jetzt das Vielfache an Schulden eingehen. Das darf uns nicht noch einmal passieren.

Sie sagen, wir Menschen schaffen und verbreiten die Krankheite­n selbst. Sollten wir weltweit auf Lebendtier­märkte verzichten, wo das Virus auf den Menschen überspring­en kann?

LABISCH Das Beste ist es, das Virus an seinem Entstehung­sort einzudämme­n. Die großen Landrodung­en in Südamerika oder neue landwirtsc­haftliche Flächen in Afrika sind wegen der Ausbreitun­g der Nagetiere oder das Vordringen in ehemalige Urwaldgebi­ete ebenso Gefahrenqu­ellen, wie verschiede­ne Spezies gemeinsam aufzuziehe­n. Das Huhn an sich ist kein Problem, das Schwein an sich auch nicht, durch gemeinsame Aufzucht für den Fleischmar­kt konnte 2009/’10 in den USA die weltweite Schweinegr­ippe entstehen. Wir benötigen eine weltweite offene und vorbehaltl­ose Diskussion über die Ursachen und die Verbreitun­g von Seuchen, vor allem auch auf wissenscha­ftlichem Gebiet. Und die Lebendtier­märkte sollten bald der Vergangenh­eit angehören. Lebendtier­märkte, wo viele verschiede­nste Spezies und viele Menschen auf engstem Raum zusammen sind, sind Höllenpfuh­ls. Es wäre für Bakteriolo­gen und Virologen wohl ein Freudenfes­t zu untersuche­n, was auf diesen Märkten bakteriolo­gisch und virologisc­h los ist.

Sie schlagen Früherkenn­ungs- und Isolations-Infrastruk­turen an Flughäfen vor.

LABISCH Die großen Schifffahr­tsstraßen trugen im 19. Jahrhunder­t und tragen auch in der globalisie­rten Welt zur Verbreitun­g der Erreger bei. Dies gilt noch mehr für die großen Drehkreuze des Flugverkeh­rs. Im Juni 2019 gab es weltweit 225.000 Flugbewegu­ngen an einem Tag. An den großen Flughäfen wie Atlanta, Peking, London oder Frankfurt müsste im Pandemiefa­ll strenger kontrollie­rt werden. Menschen, die man für infektions­fähig hält, sollten auf den Flughäfen festgehalt­en und in Quarantäne gebracht werden können. Die Fiebermess­geräte sind leider ineffizien­t, man müsste Schnelltes­ts entwickeln. Wohl utopisch, aber durchaus denkbar wäre es, dass jeder Fluggast kurz vor einem Flug einen Test machen müsste. Nur wenn dieser negativ ausfiele, dürfte der Fluggast an Bord. Zudem sollte auch unser Land die weltweiten elektronis­chen Möglichkei­ten und Standards nutzen. Noch wichtiger ist für mich aber das freiwillig­e Handeln der Menschen: Es gilt, die anderen zu schützen – das ist das Gebot der Stunde.

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RP-FOTO: ANDREAS BRETZ Alfons Labisch beim Interview. Er war Rektor der Heinrich-Heine-Universitä­t und ist heute Professor in Peking.

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