Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Der dunkelste aller Tage
Die größte Technoparty der Welt endete 2010 in einer Katastrophe. Unter den Toten war auch Christian Müller. Zehn Jahre kämpfte seine Mutter im Loveparade-Prozess um Gerechtigkeit – und hat den Glauben daran nun verloren.
DUISBURG/DÜSSELDORF Sonntagmorgen, 5 Uhr, der Tag danach. Zwei Polizeibeamte klingeln an einer Haustür in Hamm und wollen die Familie über Christians Tod informieren. Doch die Müllers wissen längst Bescheid. Die ganze Nacht saßen Mutter Gabi, Vater Uwe, Oma, Opa und Christians Freunde zusammen. Diese hatten ein paar Stunden zuvor noch in Duisburg gefeiert. Auf dem Sofa wurde viel geredet und viel geschwiegen, aber vor allem wurden viele Fragen gestellt. Damals wie heute war die wichtigste: Warum?
Der 24. Juli 2010, sagt Gabi Müller heute, war nicht nur der Tag, an dem 21 junge Menschen ihr Leben verloren haben. Es war auch der Tag, ab dem Mütter und Väter auf einmal anders lebten. Dieses andere, das viel düsterere Leben, es fängt an, als Damian bei den Müllers vor der Tür steht, viele Stunden vor der Polizei. Am Morgen war er mit Gabi Müllers Sohn Christian in den Zug nach Duisburg gestiegen, am Abend kam er alleine zurück. Die Augen haben es der Mutter sofort verraten, aber Damian spricht es aus: „Frau Müller, ich muss Ihnen etwas Schlimmes sagen. Der Christian ist tot.“
Zehn Jahre später sitzt Gabi Müller, 62, Friseurin, in einem Saal in der Messe Düsseldorf und hört zu, wie Richter Mario Plein erklärt, man habe keinen Bösewicht gefunden. Die Katastrophe bei der Loveparade, das sei „kollektives Versagen“gewesen. Im Kongresszentrum hat das Landgericht Duisburg eine Außenstelle errichtet, weil in Duisburg der Platz für einen der größten Strafprozesse der Nachkriegszeit nicht ausreichte. An Tag 184 endet das Verfahren. Eingestellt, weil niemand zur Verantwortung gezogen werden konnte. Gabi Müller ist die einzige Nebenklägerin, die erschienen ist. Der Richter wendet sich mit den letzten Worten an sie: „Ich kann mir vorstellen, dass es für Sie schwer ist, dass Sie wütend und enttäuscht sind. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir unser Bestes gegeben haben.“
Plein erklärt, die Katastrophe sei nach den bisher gewonnenen Erkenntnissen auf das „Zusammenwirken einer Vielzahl miteinander korrelierender Ursachen“zurückzuführen. Eine etwaige Schuld der verbliebenen drei Angeklagten sei nur noch als gering anzusehen. Die drei Männer waren damals alle in verantwortlicher Position beim Veranstalter Lopavent beschäftigt. Das Geschehen, sagt Plein, liege fast zehn Jahre zurück und die Angeklagten seien durch den Prozess, das mediale Interesse und die Ereignisse erheblich belastet worden. Es bestehe nur noch eine geringe Wahrscheinlichkeit, das Verfahren vor der Verjährungsfrist am 27. Juli beenden zu können. Stundenlang lässt Plein schematische Zeichnungen und Fotos einblenden, bevor er den entscheidenden Satz sagt: „Aus unserer Sicht ist die Katastrophe aufgeklärt.“Doch niemand muss sich verantworten. 21 Menschen sterben, aber diese Schuld wird nicht gesühnt.
Christian bringt das alles nicht zurück, ob nun jemand ins Gefängnis geht oder nicht. Aber Gerechtigkeit, so naiv das klingt, hätte sich Gabi Müller gewünscht für ihren Jungen. „Daran glaube ich jetzt nicht mehr“, sagt sie. Christian wurde nur 25 Jahre alt. Elektronische Musik mochte er eigentlich nicht. Aber die Loveparade war etwas Großes. Einmal im Jahr mit Hunderttausenden feiern, mitten im Ruhrgebiet. Der größte Techno-Tanz der Welt. David Guetta, Star-DJ Tiesto und der selbsternannte Philosoph der Dancekultur, Westbam, sie alle waren nur eine Zugfahrt entfernt. Vielleicht sei 2010 das letzte Mal, dass die Loveparade stattfinde, hatte Christian am Morgen noch zu seiner Mutter gesagt. „Das muss man erlebt haben.“
Regelmäßig fiel die Veranstaltung aus. Es fehlte Geld, jedes Jahr stiegen die Kosten. Die Sponsoren zögerten. Nachdem das Festival von Berlin ins Ruhrgebiet gezogen war, wurde die Suche nach einem geeigneten Gelände immer schwieriger. 2009 fiel die Loveparade erneut aus. Bochum hatte den Veranstaltern abgesagt. Die Stadt habe nicht die Kapazitäten, das Festival auszurichten, hieß es. Zu viele Besucher, zu viele Risiken. Der Polizeipräsident warnte vor einer Massenpanik und schrieb in einem offenen Brief an die Kritiker: „Überleben ist wichtiger.“
2010 dann Duisburg. Ein umzäuntes Gelände am Güterbahnhof direkt
Gabi Müller Hinterbliebene
an der Autobahn A59, insgesamt 230 Hektar groß. Anzahl der Einund Ausgänge für alle Besucher: einer – die so genannte Rampe, die von einem Tunnel zur großen Party führt. Motto der Loveparade: „The Art of Love“. Kunst der Liebe. Gabi Müller sagt zum Abschied das, was Mütter oft sagen, wenn ihre Kinder weit weg fahren, wenn sie ausgelassen feiern und es Alkohol und Drogen gibt: „Christian, pass auf dich auf.“Mittags kocht sie Gulasch mit Nudeln und stellt ihrem Sohn die Reste in den Kühlschrank. Abendessen zum Warmmachen. So haben sie es oft gemacht, wenn er später nach Hause gekommen ist. Christian
aber kommt nicht nach Hause.
An jenem Samstag im Juli gerät der 25-Jährige mitten in die Katastrophe. Die Polizei kann die Menschenmassen am Eingang irgendwann nicht mehr kontrollieren. Der Druck in der Menge wird so stark, dass Besucher stürzen und sich ineinander verkeilen. Manche klettern über die Zäune, den Hang hinauf, aber die meisten stehen mittendrin, können sich nicht mehr bewegen. Gegen 17 Uhr, als die Polizeiketten längst überrannt sind und auf jedem Quadratmeter mehr als sechs Menschen dicht gepresst stehen müssen, stirbt Christian Müller an der Rampe der Loveparade. Er erstickt im Gedränge. Der Gerichtsmediziner beschreibt die Todesursache später als „massive Brustkompression“.
Bis Gabi Müller seinen Tod akzeptieren kann, vergeht viel Zeit. Zum Gedenkgottesdienst kurz nach dem Unglück will sie nicht. Erst viele Monate später trifft sie sich mit anderen Hinterbliebenen, spricht das erste Mal über den Schmerz. „Niemand sonst konnte verstehen, was ich durchgemacht habe.“Ihr Mann Uwe redet weniger. Er frisst die Trauer in sich hinein, aber auch er hatte die Hoffnung, dass die Schuldigen bestraft werden. „Gabi, wir leben in Deutschland und nicht in einer Bananenrepublik“, hatte er mal gesagt. 2019 entdecken Ärzte in seinem Körper einen Tumor. Der Krebs streut.
Uwe Müller verliert den Kampf. Am 25. Juli, einen Tag nach dem Jahrestag der Loveparade, hört sein Herz auf zu schlagen. „Das war kein Zufall“, sagt Gabi Müller.
Der Prozess hat auch bei ihr Spuren hinterlassen. Immer wieder fuhr sie von Hamm nach Düsseldorf, hörte zu, wie Ordner und Polizisten von der Katastrophe erzählten. Sie war da, als Adolf Sauerland, der umstrittene Ex-Oberbürgermeister von Duisburg, aussagte. Gabi Müller traf auf dem Messegelände den ehemaligen Ordnungsdezernenten Wolfgang Rabe, der vor Gericht erhebliche Erinnerungslücken offenbarte und aus ihrer Sicht mehr wusste, als er zugegeben hat. „Warum saßen diese Männer nicht auf der Anklagebank?“, fragt sie. „Warum?“
Es wird immer dieses Wort sein, das Gabi Müller mit der Loveparade verbindet. Nur ganz selten fährt sie nach Duisburg. Am alten Güterbahnhof, dort, wo Christian starb, haben die Hinterbliebenen eine Gedenkstätte errichtet. Ganz oben an der Wand hängt sein Foto. Die blonden Haare gegelt, das Lächeln verschmitzt. Wer Gabi Müller zuhört, der spürt, wie stolz sie noch immer auf ihn ist. „Christian hat sich nie gebeugt, diskutierte alles aus. Das gab in der Schule oft Ärger.“Gabi Müller schimpfte dann mit ihrem Sohn. Der sagte immer nur: „Mama, es geht um Gerechtigkeit.“
„Niemand sonst konnte verstehen, was ich durchgemacht habe“