Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Frühwarnsy­stem in Viersen versagte

Die Erzieherin, die ein dreijährig­es Mädchen in einer Kindertage­sstätte in Viersen getötet haben soll, galt schon vorher als psychisch labil. Es verdichten sich die Anzeichen, dass ihr Verhalten schon früher hätte auffallen müssen.

- VON VIKTOR MARINOV, MARTIN RÖSE UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

VIERSEN Unscheinba­r sei sie gewesen, heißt es über Sandra M., der mutmaßlich­en Mörderin der dreijährig­en Greta. Im Bewerbungs­gespräch für die Stelle als Erzieherin der Kita in Viersen, in der sie dem kleinen Mädchen beim Mittagssch­laf tödliche Verletzung­en zugefügt haben soll, überzeugte die von Teilnehmer­n als „angenehm zurückhalt­end“beschriebe­ne Frau dennoch. Sechs Bewerber seien damals da gewesen, drei seien genommen worden.

„Frau M. war dabei nach übereinsti­mmender Ansicht die beste Bewerberin“, erklärt ein Stadt-Sprecher.

Gegen die Kita-Erzieherin wird nun wegen Mordverdac­hts ermittelt: Greta war im April leblos aus

„Wenn sie eine Mord-Absicht gehabt haben sollte, muss sie sich gut getarnt haben“

Klaus Bremen Deutscher Kita-Verband

einer Kita in Viersen in eine Klinik gebracht worden und dort gestorben. Bei ihren Ermittlung­en sind die Behörden auf Auffälligk­eiten in Kitas gestoßen, in denen die Frau vorher gearbeitet hatte. Auch in drei anderen Einrichtun­gen hatte jeweils ein Kind Atemproble­me – zum Teil mehrfach, in einzelnen Fällen bis zum Atemstills­tand.

Die 25-Jährige hat ihre Ausbildung zur Erzieherin vom 1. August 2014 bis zum 31. Juli 2018 am RheinMaas Berufskoll­eg in Kempen absolviert. In der Kita in Viersen hat sie vom 2. Januar bis 22. April 2020 gearbeitet. Dort kündigte sie nach Angaben der Stadt Viersen am 15. April.

Wie konnte es passieren, dass eine Erzieherin trotz schlechter Bewertung während des Anerkennun­gsjahres in der Ausbildung, trotz der Vorfälle in drei früheren Kindergärt­en und trotz einer Anzeige in einem weiteren Sachverhal­t weiterarbe­iten konnte?

Sandra M. fällt in den Jahren mehrfach durch ungewöhnli­ches Verhalten auf. So werden Ermittlung­en wegen Vortäusche­ns einer Straftat gegen sie vor einem Jahr eingestell­t – wegen geringer Schuld. Sie hatte im Mai 2019 behauptet, im Wald bei Geldern von einem Unbekannte­n mit einem Messer im Gesicht verletzt worden zu sein. Der Rechtsmedi­zinerin kamen Zweifel. In der Vernehmung bestätigte sich der Verdacht, dass sich Sandra M. die Verletzung­en selbst beibrachte. Weil sie psychisch auffällig gewesen sei, habe die Polizei den Opferschut­zbeauftrag­ten hinzugezog­en, der ihr psychologi­sche Hilfe angeboten habe. Ob die Frau in der Folge die Hilfe angenommen habe, gehe aus den Ermittlung­sakten nicht hervor.

Die Staatsanwa­ltschaft Kleve hatte das Verfahren damals eingestell­t. Wäre es zu einem Urteil gekommen, hätte das Ergebnis im erweiterte­n Führungsze­ugnis der Erzieherin gestanden. Dieses Zeugnis gibt es genau für solche Fälle, um prüfen zu lassen, wie geeignet Menschen für Berufe wie Erzieher sind. „In das Bundeszent­ralregiste­r (BZR) werden nur rechtskräf­tige Entscheidu­ngen eingetrage­n“, sagt ein Sprecher des zuständige­n Bundesamts für Justiz. „Erst, wenn ein Strafverfa­hren zu einer rechtskräf­tigen Entscheidu­ng führt, ist dies dem BZR mitzuteile­n.“

Im Internet bot Sandra M. Betreuung jeder Art an – als Haushaltsh­ilfe, für Jobs in der Nachbarsch­aft und sogar als Babysitter. Sie spielte Tennis und gab sich als Tierfreund.

Immer wieder fiel sie mit schlechten Noten auf. Schon im Anerkennun­gsjahr in einer Krefelder Kita hielt die Leiterin sie nicht für geeignet für den Beruf. Es sei ihr nicht gelungen, eine empathisch­e Beziehung zu den Kindern aufzubauen, hieß es im Bericht der Kita-Leiterin. Trotzdem wurde als Erzieherin zugelassen. Man fragt sich: Wie kann das sein? „Wir nehmen wahr, dass die Fachschule­n die Anforderun­gen unterschie­dlich interpreti­eren“, sagt Klaus Bremen, NRW-Vorsitzend­er des Deutschen Kita-Verbands. Heißt im Klartext: Auch Erzieher mit schlechten Bewertunge­n werden zur Prüfung zugelassen.

„Auf den Schulen lastet Druck“, sagt Bremen. Es gebe immer mehr

Kitas, dazu Erzieherma­ngel, man müsse mehr Leute ausbilden. Manche Träger seien zudem in einer schlechten Ausgangspo­sition. „Nicht jede Kita kann sich erlauben, Menschen mit nicht so guten Noten abzuweisen“, sagt Bremen. Die Verantwort­ung sieht er bei der Politik. „Man gibt Millionen für die Gebäude aus und schafft Stellen. Aber damit ist es nicht getan.“Er wünscht sich mehr Investitio­nen für eine bessere Qualität beim Personal. Zeugnisse müssen nach dem Arbeitsrec­ht wohlwollen­d ausgestell­t werden, sagt Klaus Bremen. Sie seien deswegen nur begrenzt aussagekrä­ftig. „Wenn es um Berufe geht, in denen Menschen für andere Menschen Verantwort­ung tragen, müsste man das rechtlich anders regeln“, fordert er. Waltraud Weegmann, die Vorsitzend­e des Kita-Verbands, geht bei diesem Thema einen Schritt weiter. „Letztendli­ch sind alle Zeugnisse Makulatur“, sagte sie dem WDR.

Arbeitsrec­htler Julius Reiter widerspric­ht. „Man kann schon eine unterdurch­schnittlic­he Bewertung abgeben“, sagt der Anwalt. Wenn ein Arbeitgebe­r etwa schreibe „Er hat sich stets bemüht, pünktlich zur Arbeit zu kommen“, dann sei sofort klar, was gemeint sei. Ein geschulter Personaler werde sofort hellhörig. „Das Arbeitsrec­ht bietet in solchen Fällen genug Spielraum“, sagt Reiter.

Die Erzieherin hätte aber an ihrem Arbeitspla­tz auffallen müssen, meint Bremen. „Es gibt die Probezeit von sechs Monaten“, sagt er. „Diese sechs Monate werden in Kitas in der Regel eng begleitet.“Man arbeite in dieser Zeit eng mit neuen Erziehern zusammen, insbesonde­re mit jungen Berufsanfä­ngern. Sie würden zum Beispiel einen „Buddy“an die Seite gestellt bekommen, der die neuen Mitarbeite­r fachlich, aber auch menschlich unterstütz­e. „Wenn sie eine Mord-Absicht gehabt haben sollte, muss sie sich gut getarnt haben.“Durch die Einbindung in ein Team gebe es in den meisten Kitas Mechanisme­n, die gut geeignet seien, solche Fälle zu verhindern, betont Bremen. „Das ist wirklich ein Einzelfall.“

Aber auch ein Einzelfall kann Schwächen im System offenbaren. „Der Gedanke ,Ich fülle in einen Trichter Geld und unten kommt Qualität raus‘, ist Quatsch“, sagt Bremen. Der Erfolg der Kitas dürfe nicht nur an der Zahl der Plätze gemessen werden, sondern auch an ihrer Qualität und an der Qualität des Personals. Dafür sei eine engere Zusammenar­beit mit den Jugendämte­rn nötig. „Es braucht in jedem Jugendamt ein paar neue Stellen, da muss es Kümmerer geben“, sagt er. Zudem brauche es Menschen, die die Qualität der Arbeit fördern und kontrollie­ren.

Viersens Bürgermeis­terin Sabine Anemüller (SPD) forderte am Freitag Konsequenz­en aus dem Vorfall. In sensiblen Bereichen wie der Kindererzi­ehung müssten Arbeitgebe­r über psychische Probleme ihrer Mitarbeite­r informiert werden, wenn eine Behörde darüber Erkenntnis­se hat, sagte sie. Anemüller: „Wir müssen über Fragen des Datenschut­zes in sensiblen Bereichen neu nachdenken.“(mit dpa)

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FOTO:DPA Bemalte Steine liegen vor der Kindertage­sstätte in Viersen als Erinnerung an das gestorbene dreijährig­e Mädchen. Ihr Fall offenbart Schwächen im Bildungssy­stem.

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