Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Bis Aachen sind es nur 180 Kilometer
Die niederländische Regierung prüft eine Laufzeitverlängerung von Borssele, dem ältesten Atomkraftwerk in der Europäischen Union.
DÜSSELDORF Nordrhein-Westfalen drohen neue Risiken durch ein veraltetes Atomkraftwerk. Die niederländische Regierung prüft zurzeit eine Laufzeitverlängerung für das Kraftwerk Borssele, den ältesten noch betriebenen Atommeiler in der gesamten EU. In der Diskussion ist eine Laufzeitverlängerung um noch einmal 20 Jahre, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag hervorgeht, die unserer Redaktion vorliegt. Damit würde sich die gesamte Laufzeit auf 80 Jahre erhöhen.
Nach Aussage der Grünen-Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, der Vorsitzenden des Umweltausschusses im Bundestag, wäre dies beispiellos: „Die Verdoppelung der vom Hersteller vorgesehenen AKW-Laufzeit ist weltweit einzigartig und brandgefährlich.“Borssele verfüge weder über ausreichende Sicherungssysteme gegen eine Kernschmelze, noch könnten diese aufgrund des hohen Alters auf den heutigen Stand gebracht werden: „Dass ein solch veraltetes Atomkraftwerk aus einer Zeit, als die ersten Farbfernseher aufkamen, noch weitere Jahrzehnte laufen soll, zeigt auf traurige Weise die rein wirtschaftlichen Interessen des Betreibers auf und ist ein handfester Skandal.“
Das Atomkraftwerk Borssele liegt rund 180 Kilometer Luftlinie von Aachen entfernt, wurde Ende der 60er-Jahre geplant und ging 1973 in Betrieb. Mehrfach wurde bereits die Laufzeit verlängert; die aktuelle Genehmigung läuft bis 2033.
In Deutschland wurden vergleichbare Atomkraftwerke nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima 2011 sofort abgeschaltet. Der Atomausstieg soll hierzulande spätestens Ende 2022 vollendet sein.
Eigentümer des Atomkraftwerks Borssele ist zu 30 Prozent der Essener Energiekonzern RWE und zu 70 Prozent der kommunale niederländische Energieversorger Delta. Für die Eigentümer ist der Weiterbetrieb besonders attraktiv, weil die Anlage längst abgeschrieben ist.
Sowohl die Bundes- als auch die Landesregierung beobachten die Vorgänge in den Niederlanden rund um die Laufzeitverlängerung genau, zumal auch die belgischen Reaktoren Tihange und Doel nach wie vor als unsicher gelten. „Die Bundesregierung wird sich weiterhin dafür einsetzen, dass erhebliche Laufzeitverlängerungen einer grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) unterzogen werden.“Wegen der aktuellen EU-Ratspräsidentschaft nehme die
Bundesregierung aber vornehmlich eine neutrale und vermittelnde Rolle ein. Trotz erreichter Fortschritte gebe es noch eine Reihe konfliktträchtiger Themen.
Das NRW-Wirtschaftsministerium äußerte sich eindeutig: „Die Landesregierung steht einer Laufzeitverlängerung alter Reaktoren ablehnend gegenüber.“Alte Kernkraftwerke könnten nur schwer an neue sicherheitliche Erkenntnisse angepasst werden. Ein erhöhter Verschleiß lange genutzter Geräte und Einbauten lasse sich nicht ausschließen. „Die Landesregierung befürwortet daher die Abschaltung alter Kernkraftwerke“, teilte das FDP-geführte Ministerium auf Anfrage mit.
Die Landesregierung machte dabei auf ein Urteil des Europäischen
Gerichtshofes vom 29. Juli 2020 aufmerksam, wonach Laufzeitverlängerungen einer grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung bedürfen. „Wir gehen davon aus, dass auch die Niederlande das Urteil des Europäischen Gerichtshofes respektieren und eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung durchführen würden“, so das Ministerium.
Bisher sehen sich die Niederlande offiziellen Informationen zufolge aber nicht in der Pflicht, eine solche Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen, weil im Zuge der bisherigen Laufzeitverlängerungen keine Modernisierungsarbeiten durchgeführt wurden.
Die Grünen-Abgeordnete Kotting-Uhl sieht hier weiteren dringenden Klärungsbedarf über Borssele
hinaus. Die EU-Rechtsprechung sei unzureichend: „Es fehlt eine allgemein geltende Regel in Europa. Das ist besonders besorgniserregend angesichts der zunehmenden Alterung des europäischen Reaktorparks und des fehlenden Willens, veraltete Atomkraftwerke abzuschalten.“Es müsse festgelegt werden, dass im Fall von Laufzeitverlängerungen immer eine Umweltverträglichkeitsprüfung stattfinden müsse. Wenn hingegen Modernisierungen eine Umweltverträglichkeitsprüfung zur Folge hätten, würden diese unterbleiben.
Umweltverträglichkeitsprüfungen kommen auch Bürgern in NRW direkt zugute: Die Bundesländer und die deutsche Öffentlichkeit können sich beteiligen – auch bei kerntechnischen Vorhaben im Ausland.