Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Ohne Kurzarbeit wäre es dramatisch“
Der Chef der NRW-Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit über Insolvenz und Qualifikation im Lockdown.
Herr Withake, wie sähe der Arbeitsmarkt derzeit ohne Kurzarbeit aus?
WITHAKE Ohne dieses gute Instrument wäre die Lage dramatisch. Wir haben im Sommer mit der Kurzarbeit 1,2 Millionen Menschen vor dem Jobverlust bewahrt. Im Moment ist trotz des Lockdowns die Nutzung nicht mehr so intensiv. Zwar haben beispielsweise viele Händler vorsorglich Kurzarbeit für ihre Mitarbeiter beantragt. Es ist aber ein flexibles Instrument. Weil es für die Geschäfte zum Beispiel die Möglichkeit des „Click and Collect“gibt, wird sie dann oft gar nicht wahrgenommen, weil die Kräfte doch gebraucht werden.
Welche Branchen sind von der Pandemie am härtesten betroffen?
WITHAKE Beispiele sind Veranstaltungstechnik und der Messebau, teils auch die Reisebranche und Kulturschaffende. Vor allem aber die Hotels und Gaststätten sowie der Handel.
Führt das dazu, dass sich die Belegschaft anderweitig umsieht?
WITHAKE Natürlich gibt es solche Fälle. Im Handwerk ist die Auftragslage ungebrochen gut. Dann überlegt sich der Schreiner im Messebau-Betrieb schon mal den Wechsel. Das Thema Fachkräftebedarf ist durch die Pandemie nicht verschwunden. Vor der Krise haben sich – rein rechnerisch – 2,1 Fachkräfte auf eine Stelle beworben, jetzt sind es 2,8. Schwieriger wird es im Helferbereich: Vor der Krise haben sich 9,9 Helfer auf eine Stelle beworben, jetzt sind es knapp 15.
Was erwarten Sie für den Jahresbeginn 2021, wenn die Verlängerung der Insolvenzantragsfrist ausläuft?
WITHAKE Die Bundesbank rechnete im Oktober dieses Jahres mit 6000 Insolvenzen im ersten Quartal. Das könnte sich durch den Lockdown noch etwas nach hinten verschieben. Wir haben keine Anzeichen dafür, dass eine umwälzende, coronabedingte Welle kommt. Die Beantragung von Insolvenzgeld ist derzeit sogar eher rückläufig. Wir sind aber für alle Eventualitäten vorbereitet und haben unser Personal entsprechend geschult. Wichtig für den Arbeitsmarkt wäre, dass die Frühjahrsbelebung einsetzt. Wenn diese ausbleibt, wird das Jahr auch für den Arbeitsmarkt anspruchsvoll.
Hat die Bundesagentur Möglichkeiten, Menschen vorübergehend in den Sektoren unterzubringen, wo gerade Not am Mann ist – Gesundheitsämter, Kitas, Kliniken?
WITHAKE Wir erleben gerade Beschäftigungsaufwuchs im Bereich Lager und Logistik, im Lebensmittelund im Baubereich sowie im Gesundheitswesen, dort vor allem bei Fachkräften und auch einfachen Tätigkeiten. Das wird aber nicht alles auffangen, weil es vom Berufsbild
oft nicht passt. Ich sehe gerade die große Chance, dass wir mehr Kundinnen und Kunden für Berufe am Menschen begeistern könnten. Wenn es uns gelingt, sie entsprechend weiterzuqualifizieren, kann aus einer Notsituation sogar etwas Positives herauskommen.
Um wie viel schwieriger wird es durch Corona, Menschen in Arbeit zu bringen, die vorher schon Schwierigkeiten hatten?
WITHAKE Die Hürden sind hoch. Das geht ja schon bei der eingeschränkten Erreichbarkeit los, wenn der Kunde Vorerkrankungen hat. Deshalb haben wir in der Pandemie stärker auf Anrufe oder Videoberatung umgestellt. Die Agenturen und insbesondere die Jobcenter bieten aber selbstverständlich immer noch persönliche Termine an.
Wie steht es um die Vermittlung Geflüchteter?
WITHAKE Im Juli waren 32 Prozent mehr Geflüchtete arbeitslos gemeldet als im Vorjahr. Bei allen Arbeitslosen waren es 22,9 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Geflüchteten haben diesen Abstand aber nach dem Ende des Lockdowns schnell verringert: Sie liegen derzeit etwa 22,5 Prozent über Vorjahr, bei allen sind es derzeit 19,4 Prozent.
Allerorten ist die Rede davon, dass die Digitalisierung durch Corona
einen Schub bekommen hat. Wie sieht es bei der Bundesagentur aus?
WITHAKE Wir haben früh die technischen Grundlagen geschaffen. Videotelefonie gehörte immer schon intern dazu. Das war kein Problem. Zudem arbeiten wir schon seit vielen Jahren mit der elektronischen Akte. Das hat sich jetzt bewährt. Gibt es zum Beispiel Engpässe bei der Bearbeitung von Kurzarbeitergeld, kann die Nachbarregion einfach aushelfen. Bei der Arbeitslosmeldung ist mittlerweile auch eine Online-Identifizierung mit dem Ausweis möglich.
Aber nur vorübergehend… WITHAKE Ja. Das geht nur noch bis zum 31. März. Ich bin überzeugt, dass die guten Erfahrungen die politisch Verantwortlichen überzeugen, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen. Ich würde mir sehr wünschen, dass das Verfahren verlängert wird, weil es enorme Ressourcen schafft. Digitalisierung stößt aber auch an Grenzen.
Wie meinen Sie das?
WITHAKE Es gibt unterschiedliche Lebenswirklichkeiten. Nicht jeder hat zu Hause schnelles W-Lan. Menschen mit eingeschränktem Datenvolumen überlegen sich schon sehr gut, ob sie die Daten für eine Videoberatung verwenden wollen. Und Jugendliche, die in der Grundsicherung aufwachsen, haben oft kein digitales Endgerät. Wir dürfen niemanden abhängen.
Was wünschen Sie sich aus dem Unternehmerlager fürs neue Jahr?
WITHAKE Ich verstehe die Sorge, in einer Pandemie Menschen von außen ins Unternehmen zu lassen. Aber ich sehe eine ganz schwierige Entwicklung: Jetzt kommt eigentlich die Praktikumszeit für viele junge Menschen. Das bricht zum Teil weg. Und damit neben einer Möglichkeit, Nachwuchs für die eigene Firma zu begeistern, auch potenzielle Azubis kennenzulernen. Da wünsche ich mir mehr Kreativität, dass man möglicherweise über andere, womöglich virtuelle Formate den jungen Leuten Zugänge zur Arbeitswelt verschafft. Wenn man auf die Praktika verzichtet, findet man den Nachwuchs nicht.
Es gab einen gesellschaftlichen Aufschrei, dass viele Solo-Selbstständige in der Pandemie in Hartz IV rutschen würden.
WITHAKE Ich verstehe die Vorbehalte. Niemand möchte mit dem Trikot „Hartz-IV-Bezieher“durch die Gegend laufen. Ich kann nur an die Betroffenen appellieren: Sie müssen da kein schlechtes Gefühl haben! Alle haben Verständnis für die Situation und wir lassen Sie mit Ihren finanziellen Sorgen in der Corona-Krise nicht alleine. Eine Überbrückung mit der Grundsicherung kann ein guter Weg sein, um in der Zeit danach wieder durchzustarten. Immerhin 13.500 Solo-Selbstständige und Künstler haben bisher Grundsicherung in NRW beantragt. Von den Werbeversprechen der Politik vom „vereinfachten Verfahren“darf man sich aber nicht blenden lassen. Der Antrag hat auch fünf Seiten, und manchmal brauchen wir noch weitere Unterlagen. Wir helfen aber gerne dabei, diese auszufüllen, vor Ort und über die bundesweite Servicehotline.
MAXIMILIAN PLÜCK FÜHRTE DAS INTERVIEW.