Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Worte sind sein wichtigstes Heilmittel
Valentin Agadzanov ist Psychotherapeut und Suchtmediziner. Rund um die Uhr ist der gebürtige Moskauer für seine Patienten da.
DÜSSELDORF Das Erste, was einem auffällt beim Betreten des Raumes, ist der riesige flauschige und bunte Teppich, der die Hälfte des Bodens bedeckt. Gelb ist das Zimmer außerdem tapeziert. Dann sind da noch der große Fernseher, die bunten Gemälde an der Wand und die hölzerne Standuhr, die leise tickt. Mitten im Raum stehen ein großer Schreibtisch und drei bequeme Ledersessel. Eine Arztpraxis oder doch ein Wohnzimmer?
Für den Psychotherapeuten und Suchtmediziner Valentin Agadzanov liegen diese Welten nicht weit auseinander: Sein Arbeitstag hat selten weniger als zehn Stunden. Sieben Tage die Woche verbringt er in der Praxis, sagt Agadzanov, der Worte als wichtigstes Heilmittel bezeichnet und Menschlichkeit seinen großen Antrieb nennt.
Den Traum, eines Tages Arzt zu werden, verfolgt Agadzanov bereits seit seiner Kindheit. Der gebürtige Moskauer wuchs mit seiner Mutter und Oma in ärmlichen Verhältnissen in der Sowjetunion auf. Ein Radiobeitrag der Deutschen Welle war der Auslöser dieses Traums. Es ging um einen deutschen Arzt, der in Russland arbeitete. „Der Doktor hat den russischen Zaren geholfen, sich aber auch für eine humanere Behandlung der einfachen Leute eingesetzt.“Seitdem wollte er Arzt werden. „Der Doktor wurde mein Vorbild und ist es noch heute“, sagt Agadzanov.
Nach seinem Medizinstudium in Moskau, das er 1991 beendete, begann er seine Doktorarbeit. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieben die Bedingungen für Patienten mit psychischen Erkrankungen „schrecklich“, sagt der Mediziner. „Sie wurden damals an Heizkörper gefesselt. So kann kein Arzt arbeiten.“Gemeinsam mit seiner Mutter und Oma flüchtete er nach Deutschland, wo sie zunächst von Sozialhilfe lebten, weil sein Studium nicht anerkannt wurde. 2006 legte Agadzanov die Facharztprüfung ab. 2007 folgt die erste eigene Praxis.
Seit 2016 praktiziert er als leitender Arzt im Medizinischen Versorgungszentrum an der Immermannstraße. An seine Vergangenheit denkt er oft. „Ich kenne die sozialen Probleme vieler Patienten aus eigener Erfahrung.“Die Suchtmedizin bewegt ihn. In dem Bereich sei die Stigmatisierung riesig. Seine sonst so ruhige Stimme wird harscher. „Eine Suchterkrankung ist kein Gerichtsurteil.“
Man dürfe Suchtkranke nicht diskriminieren oder isolieren. In seinem Wartezimmer sitzen deshalb alle Patienten gemeinsam – egal, ob sie ihr Methadon wollen oder ihre Depression behandelt lassen wollen. Gespräche, sagt der 55-Jährige, sind am wichtigsten. Mit vielen seiner Patienten ist Agadzanov auf Facebook befreundet. Andere haben auch seine private Handynummer.
Corona bedeutete auch in seinem Leben Einschnitte. „Diese Situation belastet uns alle. Im März haben wir schnell reagiert, die erforderlichen Schutz- und Hygienemaßnahmen nicht nur für unser Medizinisches Versorgungszentrum, sondern für alle Mieter und Besucher unseres Gebäudes getroffen. Außerdem haben wir schnell unsere Logistik der Situation angepasst, Patienten in häuslicher Quarantäne dringend benötigte Medikamente zur Verfügung stellen zu müssen“, sagt er.
Die Situation sorgt zusätzlich für
Sorgen, Nöte und Ängste, „deshalb steigt der psychotherapeutische Betreuungsbedarf, darauf haben wir durch ein höheres Angebot an Notfallsprechstunden ohne vorherige Terminvereinbarung reagiert“. Nach fast einem Jahr Erfahrung mit Corona und vor dem Hintergrund der sich aktuell verschärfenden Situation rät er vor allem, „niemals panisch zu reagieren, und wenn es nur das Unterlassen von überflüssigen Hamsterkäufen ist“.
Entspannung findet Agadzanov beim Klavierspielen und wenn er Zeit mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern verbringt. Doch egal, worüber man redet, der Arzt kommt auf das Thema Menschlichkeit. Auf die Frage, ob die vielen Gemälde im Zimmer sein Kunstinteresse ausdrücken, sagt er: „Die Bilder sind alle von Patienten gemalt.“
Er zeigt auf ein Gemälde mit einer Geige: „Dieses ist mir besonders wichtig.” Es komme von einer ehemaligen Patientin, die wegen unkontrollierbarer Aggressionen zwei Jahre fixiert im Krankenhaus verbracht habe. „Wir haben ihr eine Mal-Therapie verschrieben. Dabei hat sie eine Freundin kennengelernt. Ihre Aggressionen waren verschwunden.”
Man müsse Suchtkranken mit Menschlichkeit begegnen, wiederholt er. Dann lächelt er. Arzt zu sein sei ein Schicksal. Urlaub? Maximal eine Woche am Stück. Er lehnt sich aus dem Ledersessel nach vorne: „Ich bin 24 Stunden am Tag Arzt und werde es auch immer bleiben.“