Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Jeder Mensch hat schon einmal eine unvergessliche Orgelerfahrung gemacht
Die andere, die schönere, die erhabenere Welt ist nur eine dicke Tür entfernt. Der Besucher zieht sie langsam auf, und schon hört er geheimnisvolle Klänge. Helle Säulen stehen Spalier, der Raum ist kahl. Leute, die etwas von der Sache verstehen, haben einem deutlich gemacht, dass es viele schöne Orgeln auf dieser Welt gibt, aber wenn man diese hier nicht gehört hat, dann hat man das letzte Türchen nicht geöffnet.
Wir befinden uns im Norden Frankreichs, in der Kirche Saint-Ouen in Rouen. Dort hat der Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll im Jahr 1890 sein spätes Meisterwerk geschaffen, einen im Raum fast schlank wirkenden, doch jeden Hörer in die Knie zwingenden Laut- und Leisesprecher, eine Büchse der Pandora, die aber nur Gutes tut, wenn man sie öffnet. Sie hat vier Manuale mit einem höchst kommunikativen Rückpositiv, einem herrischen Hauptwerk, einem verschwenderisch bestückten Schwellwerk (Récit) und einem Bombarde-Werk, von dem das reinste Imponiergehabe ausgeht. Das Pedal steht auf 32-Fuß-Basis, es geht brunnentief hinab im Sound, und die Töne der Zungenregister dringen vor bis in die Magengrube.
Es gibt größere, dynamischere, dramatischere Instrumente, denken wir nur an die Domorgel in Passau oder die Dröhnmaschine des Wanamaker’s Department Store in Philadelphia, die mit 376 Registern größte vollständig spielbare Orgel der Welt; sie ist im sieben Stockwerke hohen Innenhof eines Macy’s-Kaufhauses aufgebaut. Aber olympisch anmutende Rekorde sind bei Orgeln zweitrangig, es entscheidet die Mischung, die Feintönung der Farben, die Harmonie von Klang und Raum, von Brillanz und Wärme, von Glanz und Kern. Natürlich möchte man im Tutti ein ordentliches Kawuppdich erleben, möchte man niedergezwungen werden, möchte man staunen und beinahe seine eigene Kleinheit erleben. Zugleich baut einen jede schöne Orgel auf, vertreibt die Wolken auf der Seele und ermöglicht die Erfahrung einer anderen Dimension. Jede Kirchenorgel ist immer auch eine Stimme vom Himmel. Die in Philadelphia bietet sozusagen nur mehrere Etagen voller Reizwäsche, sie verschleudert sinnliche Sensationen, ist aber kein Gesamtkunstwerk.
Wenn die Orgel von den deutschen Landesmusikräten nun zum „Instrument des Jahres“erklärt worden ist, dann liegt das nicht daran, dass sie nach Maultrommel, Heckelphon und Gambe endlich mal an der Reihe gewesen wäre. Nein, Deutschland ist weltweit das Vorzeigeland für Orgeln schlechthin, knapp 50.000 Exemplare gibt es hierzulande, große und kleine, wobei Puristen die rein elektronisch-digitalen Wurlitzer-, Farfisa-, Wersi- und Allen-Geräte nicht mitzählen. Nur wenn aus einem Blasebalg Luft gespendet wird, wenn Tasten ein Ventil und Registerzüge eine sogenannte Lade öffnen und dann – o Wunder des Innenlebens – Pfeifen klingen: Dann ist der Kosmos Orgel komplett.
Der Organist hat in diesen Tagen vermutlich den sichersten Ort im Infektionsgeschehen: hoch über der Kirchengemeinde, fern von tückischen Tröpfchen, dafür ein bisschen näher an Gott als alle anderen. Kein Wunder, dass die berühmtesten Organisten der Musikgeschichte immer auch improvisiert und komponiert haben. Ihnen ist das
Phänomen des Exklusiven durchaus vertraut. Zugleich ähneln sie den Dirigenten, die ganze Orchester befehligen. Sofern in der Orgel sogenannte Setzer, also hilfreiche Programmierhilfen für Registerkombinationen, verbaut sind, ist der Organist tatsächlich ein Ein-Mann-Betrieb, wobei die Zahl großartiger Organistinnen nicht gering ist, denken wir nur an Marie-Claire Alain, Jeanne Demessieux, Gillian Weir, Rosalinde Haas, Almut Rößler oder Jennifer Bate.
Jeder Mensch hat schon einmal eine elementare Orgelerfahrung gemacht, ob er als Tourist in einer fremden Kathedrale weilte, wo gerade ein Gastorganist fürs Konzert am Wochenende übte, oder ob er in seinem Heimatort nach einer Hochzeit die schnurrende Widor-Toccata hörte, deren Geblitze und Gerausche ihn
Orgeln brauchen Hall, brauchen Atmosphäre, brauchen Kirchensäulen furios beeindruckte. Zur Macht der Überwältigung gehören allerdings der Ausführende und dessen gymnastische Kompetenz zwingend hinzu. Denken wir nur an den zur Maßlosigkeit neigenden Max Reger, der in seinen Orgelfantasien alle zehn Finger dicke Akkorde kneten und beide Füße ein tosendes Doppelpedal treten ließ: Organisten müssen fit sein, wenn sie konzertierend tätig sind, sonst wird es nichts.
Die Geschichte des Orgelbaus ging immer einher mit dem technischen Fortschritt. Früher benötigte der Organist einen Kalkanten, der den Blasebalg trat, später nahm ein Motor dem Knecht die Arbeit ab. Oder die Registerzüge: Früher wirkten sie schon mal wie schwergängige Schaltknüppel, weswegen der Organist immer Assistenten benötigte; heute sind die Knüppel filigranen Knöpfchen gewichen, die sich häufig sogar vorab selektieren lassen. Technisch ist es übrigens möglich, auf einem Manual zu spielen und die anderen anzukoppeln. Auch dafür braucht der Musikus je nach Orgeltyp und Bauart ordentlich Muckis. Und eine gute Brille: Der Spieltisch mancher Orgel gleicht dem Cockpit eines kleinen Airbus.
Orgeln, so trutzig und uneinnehmbar sie wirken, sind sensible Naturen, und je nach Witterung neigen sie zum Schiefklang und verstimmen sich. Dann muss einer ins Gehäuse krabbeln und nachstimmen, wobei ein anderer am Spieltisch die Tasten drückt. Das klangliche Feintuning einer Orgelpfeife nennt man dagegen Intonieren, es obliegt dem Orgelbauer beim Neubau. Wichtig ist, dass jedes Register, also jede Pfeifenreihe, von hoch bis tief gleichmäßig klingt. Man will ja nicht, dass das Trompetenregister beim Ton A kräftig austeilt, aber direkt daneben beim As hüstelt und püstelt.
So kommt neben dem Handwerk auch ein Körnchen Physik hinzu, denn eine genaue Stimmung ist immer ein Kompromiss. Wer nur reine Quinten stimmt (c-g, g-d, d-a, a-e und so weiter), der kommt am Ende eben nicht bei c an, sondern bei einem Fitzelchen daneben. Deshalb sind gut gestimmte Quinten wie alle Intervalle immer minimal unrein, genau wie auf dem Klavier. Nur dass eine Orgel eben zuweilen über 50 Register hat, die alle pünktlich zu Weihnachten gleich schief klingen sollen. Das nennt man wohltemperiert, niemand merkt es.
Orgeln sind allerdings auch die teuersten Musikinstrumente, sieht man von Stradivari-Geigen ab. Deshalb kommt es in mancher Kirchengemeinde zu Grundsatz-Streitigkeiten: „Wollen wir wirklich für 350.000 Euro eine neue Orgel kaufen? Mit dem Geld kann man drei Dörfer in der Sahelzone über Jahre ernähren.“Ja, könnte man. Aber für die Sahelzone spendet man sowieso schon, diesmal geht es ums eigene Seelenheil. Und tatsächlich gibt es nicht wenige Menschen, die für einen Neubau eine fünfstellige Summe spenden; manche möchten sogar anonym bleiben. Sonntag für Sonntag freuen sie sich still und bescheiden an den gottgefälligen Früchten ihrer Freigebigkeit.
Ja, Kirche ohne Orgel geht gar nicht. Es fehlt das Mystische. Der Atem. Zugleich sind Orgeln so komplexe Konstruktionen, als habe der liebe Gott persönlich den letzten Feinschliff besorgt. Orgeln in Konzertsälen, oftmals mit viel Schnickschnack und Turbolader aufgemotzt, wirken dagegen wie seltsame Zwitter, großartig gebaut, doch von der Spedition am falschen Ort abgeliefert. Fast jede Konzertorgel der Neuzeit ähnelt einem Formel-1-Lotus, der immer nur im Windkanal getestet wird. Orgeln brauchen Hall, brauchen Atmosphäre, brauchen Kirchensäulen, um die herum ihr Klang fließt, brauchen den singend antwortenden Menschen. Orgelklang ist ja auch Einladung zum Dialog, nicht nur Beschallung von höherer Warte.
Es gibt Urlauber, die ihre Frankreich-Reise so planen, dass sie durch Rouen fahren, um in Saint-Ouen ein Konzert zu erleben. Wer diese Orgel lieber daheim hören möchte, kann sich die Einspielung der Orgelwerke von Marcel Dupré und Charles-Marie Widor mit dem Organisten Ben van Oosten zulegen (beim Label Dabringhaus und Grimm). Selbst hier, in seinem Wohnzimmer, erlebt der Hörer dieses Phänomen, dass er mit der ersten Sekunde Klang eine andere, eine schönere, eine erhabenere Welt betritt. Und dann hört, wie die Musik gleichsam von selbst zu atmen beginnt.