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Sucht fällt in der Pandemie öfter auf
Beratungsstellen in NRW berichten, dass seit vergangenem Jahr mehr Angehörige Hilfe für ihre Familienmitglieder oder Partner erfragen. Der Lockdown kann Katalysator für Abhänigkeiten sein – rückt diese aber auch in den Fokus.
DÜSSELDORF Immer mehr Angehörige von Suchtkranken suchen in NRW nach Hilfe. Bei den Beratungsstellen der Caritas im Rhein-Kreis Neuss haben sich 2020 im Vergleich zum Jahr davor doppelt so viele Angehörige gemeldet. Auch bei der Diakonie steigen die Anfragen. Dafür gibt es zwei Hauptgründe: Die Pandemie beschleunigt Suchtprobleme, sie fallen aber derzeit auch eher auf.
Innerhalb von Familien sei Sucht manchmal wie ein „Elefant im Wohnzimmer“, sagt Markus Lahrmann, Sprecher der Caritas in NRW. Die Sucht eines Familienmitglieds sei häufig für alle offensichtlich, aber lange Zeit spreche niemand darüber. Und selbst wer seine Sucht bisher verheimlichen konnte, fliegt jetzt auf. „Vor dem Lockdown boten zum Beispiel Schule und Arbeit eine Menge Nischen, um heimlich zu konsumieren“, sagt Angelika Schels-Bernards, Referentin für Suchthilfe der Caritas für das Erzbistum Köln.
Im Rhein-Sieg-Kreis hat sich die Beratungszeit für Angehörige bei den Stellen der Caritas teilweise vervierfacht. Während die Mitarbeiter dort im Januar des vergangenen Jahres noch 15 Stunden damit verbrachten, mit Familienmitglieder und Partnern über die Situation von Suchtkranken zu sprechen, waren es im September 66 Stunden. Zwar ist dieser Aufwand im Februar auf 53 Stunden gesunken. Er bleibt damit aber trotzdem wesentlich höher als in den Zeiten vor der Pandemie. „Es sind die Angehörigen, die sich zuerst melden, nicht die Betroffenen selbst“, sagt Lahrmann. Die deutlich höhere Zeit der Beratungen von Angehörigen sei deswegen ein Indiz dafür, dass nicht nur die Anfragen, sondern auch problematisches
Suchtverhalten an sich zugenommen habe. Gerade für Menschen, die nach einer Sucht abstinent leben, sei der Lockdown Gift, sagt Schels-Bernards. „Frustration und Einsamkeit, aber auch Kurzarbeit oder Entlassungen, können Menschen zurück in die Abhängigkeit treiben.“Wer tagsüber schon trinkt und keine Tagesstruktur hat, könne im Lockdown ein unkontrolliertes Suchtverhalten entwickeln.
Bei der Diakonie beobachten Experten ebenfalls, dass immer mehr Angehörige von Suchtkranken nach Hilfe suchen, insbesondere wenn es um Alkohol geht. „Wir verzeichnen bei den Anfragen eine Steigerung von mindestens zehn Prozent, in vielen Beratungsstellen liegen die Zahlen deutlich höher“, sagt Ralph Seiler, Referent für Sucht bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (RWL) und Geschäftsführer des Evangelischen Fachverbandes Sucht
RWL. Einen auffälligen Anstieg gebe es auch bei Online-Sucht, sagt Seiler.
Bei der Caritas macht man sich Sorgen um die Folgen des Anstiegs, die sich jetzt schon abzeichnen. „Bei den telefonischen Anfragen haben die Kapazitäten in Spitzenzeiten bei Weitem nicht ausgereicht“, sagt Markus Lahrmann. Aber dies sei ein generelles Problem: „Auf einen Ersttermin musste auch vorher schon drei bis vier Wochen gewartet werden.“Nach dem Lockdown sei zu erwarten, dass noch mehr Menschen die Beratungsstellen aufsuchen. Diese Sorge gibt es auch bei der Diakonie. Ralph Seiler sagt: „Wir gehen von einem deutlichen Anstieg beim Bedarf nach Beratung und Unterstützung suchtgefährdeter Menschen. Das kann das System absehbar an Kapazitätsgrenzen führen.“
Diakonie und Caritas sind zusammengenommen Träger von 90 Prozent der 170 Sucht- und Drogenberatungsstellen in NRW. Angesichts der Pandemie warnt die Caritas vor einer bröckelnden Finanzierungsgrundlage. Die Suchtberatung wird durch die Kommunen refinanziert, in der Regel pauschal und unabhängig von der Auslastung. Lahrmann befürchtet, dass Kommunen wegen der finanziellen Ausfälle der Pandemie „an der falschen Stelle“sparen. Mit der Folge, dass Suchtkranke dann noch länger auf eine Beratung warten müssen.