Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Viele denken an kleine strubbelig­e Einsteins“

Die Leiterin der „Stiftung Haus der Talente“sagt, wie hochbegabt­e Kinder gefördert werden können.

- RP-FOTO: ANDREAS BRETZ

Frau Warnecke, mit welchen Erwartunge­n und Beobachtun­gen melden sich Eltern bei Ihnen?

SABINE WARNECKE In unserer Leistungsg­esellschaf­t ist ein hochbegabt­es Kind natürlich wünschensw­ert, weil man von ihm beste Zeugnisse, Abschlüsse und Übergänge in Schule und Beruf erwartet. Damit gehen aber auch die große Sorge und der Druck einher, etwas nicht erkannt und optimal gefördert zu haben. Manche wollen schon ihr dreijährig­es Kind testen lassen, in dem Alter arbeiten wir aber mit Beobachtun­gen und Einschätzu­ngen und geben Förderempf­ehlungen. Es kommt auch schon mal zu Voreiligke­iten, dass ein Kind einen kleinen Entwicklun­gsvorsprun­g, etwa in der Sprachentw­icklung hat, aber andere Anzeichen uns zeigen: Es liegt keine besondere Begabung vor.

Sind die Eltern dann sehr enttäuscht?

WARNECKE Da setzt die Qualität der Beratung an. Wie vermittele ich die Botschaft? Das ist ja keine negative Botschaft, wir zeigen auf, wo die besonderen Fähigkeite­n des Kindes liegen und wie man sie fördern kann. Und das führt dann oft zu Motivation, dazu, dass die Kinder gerne zur Schule gehen und diese nicht als Last erleben.

Wie wird bei Ihnen eine Hochbegabu­ng diagnostiz­iert?

WARNECKE Wir bieten für Eltern und Schulen unsere psychologi­sche Diagnostik an und verfügen über umfangreic­hes, aktuelles Testmateri­al. Darüber hinaus haben wir für Lehrkräfte einen Beobachtun­gsbogen für die pädagogisc­he Diagnostik entwickelt. Da gibt es zehn Kriterien, etwa Sprachentw­icklung, mathematis­ch-logische Intelligen­z, Kreativitä­t, künstleris­ch-handwerkli­ches Geschick, kritisches Denken, auch Motivation. Die entscheide­t dann auch darüber, ob ein Kind lernen und leisten kann oder nicht. Denn eine hohe Begabung kann auch ins Underachie­vement übergehen, wenn zum Beispiel im schulische­n und familiären Umfeld etwas nicht stimmt.

Wie viele Kinder gelten als hochbegabt?

WARNECKE Man sagt so zwei Prozent eines Jahrgangs, je nachdem, wo man die Grenze zieht. Wir sprechen von einer Hochbegabu­ng ab einem IQ von 130, sprechen aber auch von besonderen Begabungen ab einem IQ von 125. Das muss auch nicht der Gesamt-IQ sein, auch eine Teilbegabu­ng würdigen wir. Ich habe in die „Kinder- und Jugendakad­emie zur Förderung außergewöh­nlicher Talente“auch mal ein Mädchen aufgenomme­n, das eine sozial-emotionale Hochbegabu­ng hatte.

Wie sah die aus?

WARNECKE Das ist jemand, der sehr gut Beziehunge­n zu anderen aufbauen und Gespräche lenken kann, das Gruppenges­chehen gut beobachtet, kooperativ und verantwort­ungsbewuss­t ist in der Zusammenar­beit und Gefühle anderer erkennen und verbalisie­ren kann.

Ist das Bild vom hochbegabt­en Kind als Einzelgäng­er also überholt?

WARNECKE Ich denke ja. Wir merken, dass man oft der Disharmoni­e-Hypothese folgt, denkt, dass die Hochbegabt­en im Verhalten auffällig und so kleine strubbelig­e Einsteins sind, die einen ganz eigenwilli­gen Weg haben und nicht so richtig dazugehöre­n. Wir erleben hier aber die gleiche Vielfalt wie bei normalen Kindern, sie sind angepasst, oft sehr humorvoll (lacht).

Warum ist die Förderung von besonderen Talenten so wichtig?

WARNECKE Der IQ ist wie eine Schuhgröße, der sagt nicht viel aus. Aber wenn wir genauer in die Tests schauen, sehen wir die Teilbegabu­ngen, können besser fördern. Dann hat die Förderung einen sehr positiven Effekt auf die Motivation des Kindes. Da gibt es dann einen Baustein im Schülerleb­en, der entwickelt sich sehr erfreulich, weil Wissen aufgesogen und weitervera­rbeitet wird.

Wir haben festgestel­lt, dass das auf die Gesamtmoti­vation des Kindes ausstrahlt in der Schule, auf andere Fächer. Der Klassiker ist ja, dass wenn eine Hochbegabu­ng nicht erkannt wird, das Kind gelangweil­t ist, ihm Herausford­erungen fehlen, den Unterricht zum Beispiel stört oder ganz abschaltet.

Wie fördern Sie hochbegabt­e Kinder und Jugendlich­e in Zeiten von Corona?

WARNECKE Wir haben schon im ersten Lockdown Präsenzver­anstaltung­en nach dem AHA-Konzept entwickelt und angeboten, hybride Veranstalt­ungen und Online-Projekte, -Kurse und -Beratungen. Und wir haben Fördermate­rialien entwickelt und Schulen, Eltern und Kindern an die Hand gegeben. Wir konnten so Kinder und Jugendlich­e unterschie­dlichster Begabungsp­rofile erreichen und unterstütz­en.

Wie sehen die Angebote inhaltlich aus?

WARNECKE Das geht vom Link für Grundschul­lehrer und -lehrerinne­n für einen besonderen Fachunterr­icht über Online-Projekte oder

Kurse, die wir in unserer Ferienakad­emie angeboten haben, bis hin zu Projekten wie „Schüler machen Unterricht“. Wir haben unsere Schüler trotz Corona über das ganze Jahr begleitet und zwar 360 Grad. Das heißt: Wir fördern nicht nur die Schüler, wir wollen sie auch in ihrem Lernund Lebensfeld unterstütz­en, haben Eltern-Werkstätte­n angeboten, Lehrer zu Talentscou­ts qualifizie­rt und zu Lerncaoche­s ausgebilde­t.

Was passiert in einer Elternwerk­statt?

WARNECKE Die Werkstätte­n bieten wir für Eltern von Kindern von der Kita bis zum Übergang Schule/Beruf an. In den Online-Gesprächsk­reisen geht es um Fragen wie: Wie kann man die Begabung besser erkennen und fördern? Was kann man von der Schule realistisc­herweise erwarten? Wir haben festgestel­lt, dass es Eltern gibt, die etwas überzogene Erwartunge­n haben.

Was für welche?

WARNECKE Wir versuchen, ein bisschen mehr Realität in die Köpfe zu bringen. Man kann nun wirklich nicht erwarten, dass es jeden Tag für jedes Kind eine Rückmeldun­g zu jeder Einzelleis­tung gibt. Dafür sind die Klassen zu groß, und die Lehrer haben mit der Umstellung auf den digitalen Unterricht sehr große Herausford­erungen. Jede Schule ist auch anders ausgestatt­et, etwa mit Kooperatio­nspartnern und im Schulkonze­pt. Die einen sagen, wir wollen alle Schüler fördern, alle Begabungen erkennen, manche wollen schwächeno­rientiert fördern, bei den Lernproble­men ansetzen. Und vor allem haben wir auch eine Elternwerk­statt, in der es um Brückenbau in der Kommunikat­ion mit Schule geht.

Wie können Eltern gerade in der anstrengen­den Corona-Zeit ihre besonders talentiert­en Kinder fördern?

WARNECKE Was die Kinder brauchen im digitalen Zeitalter und in Zeiten des digitalen Unterricht­s, ist eine klare Tagesstruk­tur und ein Gleichgewi­cht zwischen Herausford­erungen und Entspannun­g. Und die sollte idealerwei­se nicht vor dem PC sein. Auch über Belohnunge­n sollte man gemeinsam mit dem Kind sprechen. Eltern können unter anderem unsere Link-Liste nutzen mit ergänzende­n Förderidee­n. In Ferienzeit­en kann man gemeinsame Projekte angehen, basteln, forschen oder Strategies­piele spielen. Die Kinder brauchen und wollen zusätzlich­en Input.

Wie stehen Sie zu vorzeitige­n Einschulun­gen oder dem Überspring­en von Klassen?

WARNECKE Im Einzelfall kann das eine sehr sinnvolle Maßnahme sein, die aber fachlich gut begleitet werden muss und von vielen Einzelfakt­oren abhängig ist. Wir haben speziell für die Übergänge von Kita in Grundschul­e und in die weiterführ­ende Schule ein Modell entwickelt, in dem man alle kleinen Stellschra­uben sieht. Die klopfen wir mit Eltern und Lehrkräfte­n ab. Wie sieht das mit der emotionale­n und sozialen Entwicklun­g aus? Wie mit der Motorik, mit der Handschrif­t etc.? Dann entscheide­n wir gemeinsam mit dem Kind: Macht das Überspring­en Sinn? So können wir Entscheidu­ngen treffen, die tragfähig sind und in der Regel gut ausgehen.

Bekommen Sie Rückmeldun­gen darüber, welchen Weg die bei Ihnen geförderte­n Kinder und Jugendlich­e später einschlage­n?

WARNECKE Es gibt einige Fälle, in denen wir Schüler von der Kita bis zum Studium begleitet haben und die später als Jung-Dozenten zu uns ins „Haus der Talente“zurückkehr­en. Das sind Glücksfäll­e. Wir haben zum Beispiel zwei Jungen, die an Robotikkur­sen bei uns teilnahmen, jetzt Informatik studieren und aktuell bei uns Kurse leiten. Wir haben auch Alumni-Treffen, bei denen Netzwerke entstehen.

Was finden Sie an Ihrer Arbeit fasziniere­nd?

WARNECKE Es ist die Detektivar­beit, Talente zu erkennen, zu heben, aber auch diese Mediations­arbeit zwischen Eltern, Lehrkräfte­n und Kind, dieses Austariere­n, wo der Hase im Pfeffer liegt und eine gemeinsame Förderlini­e zu finden. Und beim Konzipiere­n der Fördermaßn­ahmen ist viel Kreativitä­t nötig. Und wenn wir sehen, das kommt an, dann sind wir alle sehr zufrieden. Vorher war ich Personalen­twicklerin und Talentförd­erin von Erwachsene­n und habe dann vor zehn Jahren begonnen, Talentförd­erung für Kinder und Jugendlich­e zu betreiben und habe mich vorher auch dementspre­chend qualifizie­rt.

SEMIHA ÜNLÜ STELLTE DIE FRAGEN.

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Der IQ sei wie eine Schuhgröße, sagt Sabine Warnecke. Wichtig sei es, genauer bei Teilbegabu­ngen hinzusehen.

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