Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Viele denken an kleine strubbelige Einsteins“
Die Leiterin der „Stiftung Haus der Talente“sagt, wie hochbegabte Kinder gefördert werden können.
Frau Warnecke, mit welchen Erwartungen und Beobachtungen melden sich Eltern bei Ihnen?
SABINE WARNECKE In unserer Leistungsgesellschaft ist ein hochbegabtes Kind natürlich wünschenswert, weil man von ihm beste Zeugnisse, Abschlüsse und Übergänge in Schule und Beruf erwartet. Damit gehen aber auch die große Sorge und der Druck einher, etwas nicht erkannt und optimal gefördert zu haben. Manche wollen schon ihr dreijähriges Kind testen lassen, in dem Alter arbeiten wir aber mit Beobachtungen und Einschätzungen und geben Förderempfehlungen. Es kommt auch schon mal zu Voreiligkeiten, dass ein Kind einen kleinen Entwicklungsvorsprung, etwa in der Sprachentwicklung hat, aber andere Anzeichen uns zeigen: Es liegt keine besondere Begabung vor.
Sind die Eltern dann sehr enttäuscht?
WARNECKE Da setzt die Qualität der Beratung an. Wie vermittele ich die Botschaft? Das ist ja keine negative Botschaft, wir zeigen auf, wo die besonderen Fähigkeiten des Kindes liegen und wie man sie fördern kann. Und das führt dann oft zu Motivation, dazu, dass die Kinder gerne zur Schule gehen und diese nicht als Last erleben.
Wie wird bei Ihnen eine Hochbegabung diagnostiziert?
WARNECKE Wir bieten für Eltern und Schulen unsere psychologische Diagnostik an und verfügen über umfangreiches, aktuelles Testmaterial. Darüber hinaus haben wir für Lehrkräfte einen Beobachtungsbogen für die pädagogische Diagnostik entwickelt. Da gibt es zehn Kriterien, etwa Sprachentwicklung, mathematisch-logische Intelligenz, Kreativität, künstlerisch-handwerkliches Geschick, kritisches Denken, auch Motivation. Die entscheidet dann auch darüber, ob ein Kind lernen und leisten kann oder nicht. Denn eine hohe Begabung kann auch ins Underachievement übergehen, wenn zum Beispiel im schulischen und familiären Umfeld etwas nicht stimmt.
Wie viele Kinder gelten als hochbegabt?
WARNECKE Man sagt so zwei Prozent eines Jahrgangs, je nachdem, wo man die Grenze zieht. Wir sprechen von einer Hochbegabung ab einem IQ von 130, sprechen aber auch von besonderen Begabungen ab einem IQ von 125. Das muss auch nicht der Gesamt-IQ sein, auch eine Teilbegabung würdigen wir. Ich habe in die „Kinder- und Jugendakademie zur Förderung außergewöhnlicher Talente“auch mal ein Mädchen aufgenommen, das eine sozial-emotionale Hochbegabung hatte.
Wie sah die aus?
WARNECKE Das ist jemand, der sehr gut Beziehungen zu anderen aufbauen und Gespräche lenken kann, das Gruppengeschehen gut beobachtet, kooperativ und verantwortungsbewusst ist in der Zusammenarbeit und Gefühle anderer erkennen und verbalisieren kann.
Ist das Bild vom hochbegabten Kind als Einzelgänger also überholt?
WARNECKE Ich denke ja. Wir merken, dass man oft der Disharmonie-Hypothese folgt, denkt, dass die Hochbegabten im Verhalten auffällig und so kleine strubbelige Einsteins sind, die einen ganz eigenwilligen Weg haben und nicht so richtig dazugehören. Wir erleben hier aber die gleiche Vielfalt wie bei normalen Kindern, sie sind angepasst, oft sehr humorvoll (lacht).
Warum ist die Förderung von besonderen Talenten so wichtig?
WARNECKE Der IQ ist wie eine Schuhgröße, der sagt nicht viel aus. Aber wenn wir genauer in die Tests schauen, sehen wir die Teilbegabungen, können besser fördern. Dann hat die Förderung einen sehr positiven Effekt auf die Motivation des Kindes. Da gibt es dann einen Baustein im Schülerleben, der entwickelt sich sehr erfreulich, weil Wissen aufgesogen und weiterverarbeitet wird.
Wir haben festgestellt, dass das auf die Gesamtmotivation des Kindes ausstrahlt in der Schule, auf andere Fächer. Der Klassiker ist ja, dass wenn eine Hochbegabung nicht erkannt wird, das Kind gelangweilt ist, ihm Herausforderungen fehlen, den Unterricht zum Beispiel stört oder ganz abschaltet.
Wie fördern Sie hochbegabte Kinder und Jugendliche in Zeiten von Corona?
WARNECKE Wir haben schon im ersten Lockdown Präsenzveranstaltungen nach dem AHA-Konzept entwickelt und angeboten, hybride Veranstaltungen und Online-Projekte, -Kurse und -Beratungen. Und wir haben Fördermaterialien entwickelt und Schulen, Eltern und Kindern an die Hand gegeben. Wir konnten so Kinder und Jugendliche unterschiedlichster Begabungsprofile erreichen und unterstützen.
Wie sehen die Angebote inhaltlich aus?
WARNECKE Das geht vom Link für Grundschullehrer und -lehrerinnen für einen besonderen Fachunterricht über Online-Projekte oder
Kurse, die wir in unserer Ferienakademie angeboten haben, bis hin zu Projekten wie „Schüler machen Unterricht“. Wir haben unsere Schüler trotz Corona über das ganze Jahr begleitet und zwar 360 Grad. Das heißt: Wir fördern nicht nur die Schüler, wir wollen sie auch in ihrem Lernund Lebensfeld unterstützen, haben Eltern-Werkstätten angeboten, Lehrer zu Talentscouts qualifiziert und zu Lerncaoches ausgebildet.
Was passiert in einer Elternwerkstatt?
WARNECKE Die Werkstätten bieten wir für Eltern von Kindern von der Kita bis zum Übergang Schule/Beruf an. In den Online-Gesprächskreisen geht es um Fragen wie: Wie kann man die Begabung besser erkennen und fördern? Was kann man von der Schule realistischerweise erwarten? Wir haben festgestellt, dass es Eltern gibt, die etwas überzogene Erwartungen haben.
Was für welche?
WARNECKE Wir versuchen, ein bisschen mehr Realität in die Köpfe zu bringen. Man kann nun wirklich nicht erwarten, dass es jeden Tag für jedes Kind eine Rückmeldung zu jeder Einzelleistung gibt. Dafür sind die Klassen zu groß, und die Lehrer haben mit der Umstellung auf den digitalen Unterricht sehr große Herausforderungen. Jede Schule ist auch anders ausgestattet, etwa mit Kooperationspartnern und im Schulkonzept. Die einen sagen, wir wollen alle Schüler fördern, alle Begabungen erkennen, manche wollen schwächenorientiert fördern, bei den Lernproblemen ansetzen. Und vor allem haben wir auch eine Elternwerkstatt, in der es um Brückenbau in der Kommunikation mit Schule geht.
Wie können Eltern gerade in der anstrengenden Corona-Zeit ihre besonders talentierten Kinder fördern?
WARNECKE Was die Kinder brauchen im digitalen Zeitalter und in Zeiten des digitalen Unterrichts, ist eine klare Tagesstruktur und ein Gleichgewicht zwischen Herausforderungen und Entspannung. Und die sollte idealerweise nicht vor dem PC sein. Auch über Belohnungen sollte man gemeinsam mit dem Kind sprechen. Eltern können unter anderem unsere Link-Liste nutzen mit ergänzenden Förderideen. In Ferienzeiten kann man gemeinsame Projekte angehen, basteln, forschen oder Strategiespiele spielen. Die Kinder brauchen und wollen zusätzlichen Input.
Wie stehen Sie zu vorzeitigen Einschulungen oder dem Überspringen von Klassen?
WARNECKE Im Einzelfall kann das eine sehr sinnvolle Maßnahme sein, die aber fachlich gut begleitet werden muss und von vielen Einzelfaktoren abhängig ist. Wir haben speziell für die Übergänge von Kita in Grundschule und in die weiterführende Schule ein Modell entwickelt, in dem man alle kleinen Stellschrauben sieht. Die klopfen wir mit Eltern und Lehrkräften ab. Wie sieht das mit der emotionalen und sozialen Entwicklung aus? Wie mit der Motorik, mit der Handschrift etc.? Dann entscheiden wir gemeinsam mit dem Kind: Macht das Überspringen Sinn? So können wir Entscheidungen treffen, die tragfähig sind und in der Regel gut ausgehen.
Bekommen Sie Rückmeldungen darüber, welchen Weg die bei Ihnen geförderten Kinder und Jugendliche später einschlagen?
WARNECKE Es gibt einige Fälle, in denen wir Schüler von der Kita bis zum Studium begleitet haben und die später als Jung-Dozenten zu uns ins „Haus der Talente“zurückkehren. Das sind Glücksfälle. Wir haben zum Beispiel zwei Jungen, die an Robotikkursen bei uns teilnahmen, jetzt Informatik studieren und aktuell bei uns Kurse leiten. Wir haben auch Alumni-Treffen, bei denen Netzwerke entstehen.
Was finden Sie an Ihrer Arbeit faszinierend?
WARNECKE Es ist die Detektivarbeit, Talente zu erkennen, zu heben, aber auch diese Mediationsarbeit zwischen Eltern, Lehrkräften und Kind, dieses Austarieren, wo der Hase im Pfeffer liegt und eine gemeinsame Förderlinie zu finden. Und beim Konzipieren der Fördermaßnahmen ist viel Kreativität nötig. Und wenn wir sehen, das kommt an, dann sind wir alle sehr zufrieden. Vorher war ich Personalentwicklerin und Talentförderin von Erwachsenen und habe dann vor zehn Jahren begonnen, Talentförderung für Kinder und Jugendliche zu betreiben und habe mich vorher auch dementsprechend qualifiziert.
SEMIHA ÜNLÜ STELLTE DIE FRAGEN.