Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Neuer Wind pustet mehr Wir ins alte Kreishaus
Breite Mehrheit für den Kreishaushalt. Symbol für die Bereitschaft, Kräfte zu bündeln: Kampf der Pandemie, Ernst machen mit dem Klimaschutz, die Risiken des Strukturwandels in Chancen verwandeln.
RHEIN-KREIS Die scharfe Debatte gehört zur Demokratie, die vom Wettbewerb der Ideen und Argumente lebt. Für die politische Hygiene ist die Opposition unverzichtbar, die den Mächtigen auf die Finger schaut. Doch dieser gewollte, konstruktive Streit zwischen Mehr- und Minderheit driftet oft in ritualisierte Reflexe ab: Wir sind dagegen, weil ihr dafür seid! In dieses Verhaltensmuster – hier die CDU-geführte Mehrheit, dort die SPD-geführte Opposition – war Kreispolitik hierzulande erstarrt. Professionalität und Routine statt Innovation und Mut.
Und jetzt das! Erstmals seit vielen, vielen Jahren trägt eine ganz große Koalition von der FDP bis hin zur Linken den Haushalt 2021 mit und signalisiert, dass eine auf die Zukunft ausgerichtete Politikwende im Tenor „Wir bringen den Rhein-Kreis nach vorn“möglich scheint. Und das alles ohne öffentliche Debatte, ohne Kampfabstimmung, wohl aber nach langen Verhandlungen bis tief in die Nacht mit dem Willen zum ertragreichen Kompromiss.
Warum ist ausgerechnet jetzt etwas gelungen, was den Charme eines Neuanfangs in sich birgt? Mit der Kommunalwahl im Herbst 2020 wurde der Kreistag weiblicher, jünger, bunter. Neue Abgeordnete bringen neue Ideen, neue Umgangsformen, neue Sprache ein. Sie sind nicht in dem gefangen, was sie einst gesagt und getan haben. Zudem verhindert das Wahlergebnis selbst knappe Mehrheiten. Das Kräfteverhältnis endet im Unentschieden. Weder die von der CDU angeführte Gruppe mit FDP und UWG/ Zentrum noch die rot-grüne Kooperation verfügt über eine (absolute) Mehrheit. Im Klartext: Ein Haushalt
mit allein wirtschaftsliberaler oder mit primär sozialökologischer Handschrift wäre rein rechnerisch nur mit Stimmen der AfD zu verabschieden gewesen. Aber in den Geruch zu geraten, von den Rechten unterstützt zu werden, das wollte keiner der beiden großen Blöcke.
In dieser Situation war der Kompromiss der Königsweg. Das war allen klar und es muss keine schlechte Lösung gewesen sein. Der Haushalt in der Struktur, den Landrat Hans-Jürgen Petrauschke und Kämmerer Ingolf Graul eingebracht hatten, wurde letztlich durchgewunken. Wie auch nicht. 65 Prozent des Kreishalts sind einschließlich Landschaftsumlage für Sozialleistungen vorgesehen; weitere Standards wie Personalkosten kommen hinzu. Eine sogenannte freie Spitze gibt es nur noch in der Erinnerung der älteren Kreistagsmitglieder. So nebenbei wurde auch der Schuldenabbau – ein prägendes Markenzeichen der Petrauschke-Ära – fortgesetzt.
Dass sich die Fraktionen rühmen können, dem Haushalt ihre Handschrift verpasst zu haben, war relativ preiswert zu haben. Die CDU brachte eine Reihe ihrer Anträge durch, die SPD und Grüne feiern einen Durchbruch bei den Investitionen
in den Klimaschutz, und Carsten Thiel (UWG) freut sich über die Gründung der Kreiswohnungsbaugesellschaft, für die er lange an der Seite des Landrats gekämpft hat.
Der Finanzaufwand für diese politischen Initiativen ist überschaubar. Da sich die Fraktionen auch noch einig waren, sich das erforderliche Geld nicht aus der aktuellen Kreisumlage zu holen, sondern dafür in die Ausgleichsrücklage zu greifen, war auch die Sollbruchstelle zu den acht kreisangehörigen Kommunen geglättet. Wenn ein jeder für seine Lieblingsprojekte Geld erhält, ist am Ende jeder auch zufrieden.
Also Harmonie auf niedrigem Niveau? Nein, mit dieser Einschätzung würde den Kreispolitikern Unrecht getan. Wer die nicht-gehaltenen Haushaltsreden nachliest – sie wurden lediglich zu Protokoll gegeben –, der wird feststellen, dass in diesen Krisenzeiten alle darauf aus sind, gegenzusteuern: Kampf gegen die Corona-Pandemie, Ernst machen mit dem Klimaschutz, die Risiken aus dem Strukturwandel, den der Ausstieg aus der Braunkohle-Verstromung diktiert, in Chancen umwandeln. Offenbar hat die Mehrheit der Abgeordneten im Kreistag – aber mit unterschiedlicher Akzentuierung – begriffen, dass ein entschiedenes „Weiter so“zum Verlust der Lebensqualität an Rhein und Erft führt.
Klug und nachvollziehbar spannte Swenja Krüppel (Grüne) in ihrer Rede den Bogen von der Coronazur Klima-Krise. Hier wie dort gelte es, sich gesamtgesellschaftlich vor Erreichen des „Kipppunktes“– gemeint ist der Point of no return – umzuorientieren: Indem „wir von dem Gewohnten abweichen und unser Handeln in jedem Lebensbereich kritisch reflektieren.“Um die Gesellschaft mitzunehmen, bedürfe es „eine Sicherheit spendende Sozialpolitik, Investitionen in moderne und umfangreiche, lebenslange Bildung, wie auch sinnliche und kulturelle Angebote, die die gesellschaftliche und demokratische Resilienz (Widerstandskraft, in sich wandelnden Lebensbedingungen) stärken“. Nur eins sagt Swenja Krüppel nicht: Wie Lebensstandard und Transformation der Lebensbedingungen zu finanzieren sind.
Wie es gehen könnte, formuliert CDU-Chef Dieter Welsink, zugleich auch Unternehmer: „Der RheinKreis muss seine aktuelle wirtschaftliche Prosperität durch Substituierung wegfallender Wertschöpfung erhalten und durch die Schaffung neuer Anreize und über die Ansiedlung neuer innovativer Branchen ausbauen.“In diesem wichtigen Punkt sind Welsink und die CDU der SPD und ihrem neuen Chef Udo Bartsch sehr nahe: „Es gilt weiter, einen Strukturbruch zu verhindern und Weichen zu stellen für neues Wachstum und neue Beschäftigung mit modernsten Arbeitsplätzen.“Bartsch zitierte Aristoteles und traf das neue Denken im alten Kreishaus auf den Punkt: „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“