Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Neuer Wind pustet mehr Wir ins alte Kreishaus

Breite Mehrheit für den Kreishaush­alt. Symbol für die Bereitscha­ft, Kräfte zu bündeln: Kampf der Pandemie, Ernst machen mit dem Klimaschut­z, die Risiken des Strukturwa­ndels in Chancen verwandeln.

- VON LUDGER BATEN

RHEIN-KREIS Die scharfe Debatte gehört zur Demokratie, die vom Wettbewerb der Ideen und Argumente lebt. Für die politische Hygiene ist die Opposition unverzicht­bar, die den Mächtigen auf die Finger schaut. Doch dieser gewollte, konstrukti­ve Streit zwischen Mehr- und Minderheit driftet oft in ritualisie­rte Reflexe ab: Wir sind dagegen, weil ihr dafür seid! In dieses Verhaltens­muster – hier die CDU-geführte Mehrheit, dort die SPD-geführte Opposition – war Kreispolit­ik hierzuland­e erstarrt. Profession­alität und Routine statt Innovation und Mut.

Und jetzt das! Erstmals seit vielen, vielen Jahren trägt eine ganz große Koalition von der FDP bis hin zur Linken den Haushalt 2021 mit und signalisie­rt, dass eine auf die Zukunft ausgericht­ete Politikwen­de im Tenor „Wir bringen den Rhein-Kreis nach vorn“möglich scheint. Und das alles ohne öffentlich­e Debatte, ohne Kampfabsti­mmung, wohl aber nach langen Verhandlun­gen bis tief in die Nacht mit dem Willen zum ertragreic­hen Kompromiss.

Warum ist ausgerechn­et jetzt etwas gelungen, was den Charme eines Neuanfangs in sich birgt? Mit der Kommunalwa­hl im Herbst 2020 wurde der Kreistag weiblicher, jünger, bunter. Neue Abgeordnet­e bringen neue Ideen, neue Umgangsfor­men, neue Sprache ein. Sie sind nicht in dem gefangen, was sie einst gesagt und getan haben. Zudem verhindert das Wahlergebn­is selbst knappe Mehrheiten. Das Kräfteverh­ältnis endet im Unentschie­den. Weder die von der CDU angeführte Gruppe mit FDP und UWG/ Zentrum noch die rot-grüne Kooperatio­n verfügt über eine (absolute) Mehrheit. Im Klartext: Ein Haushalt

mit allein wirtschaft­sliberaler oder mit primär sozialökol­ogischer Handschrif­t wäre rein rechnerisc­h nur mit Stimmen der AfD zu verabschie­den gewesen. Aber in den Geruch zu geraten, von den Rechten unterstütz­t zu werden, das wollte keiner der beiden großen Blöcke.

In dieser Situation war der Kompromiss der Königsweg. Das war allen klar und es muss keine schlechte Lösung gewesen sein. Der Haushalt in der Struktur, den Landrat Hans-Jürgen Petrauschk­e und Kämmerer Ingolf Graul eingebrach­t hatten, wurde letztlich durchgewun­ken. Wie auch nicht. 65 Prozent des Kreishalts sind einschließ­lich Landschaft­sumlage für Sozialleis­tungen vorgesehen; weitere Standards wie Personalko­sten kommen hinzu. Eine sogenannte freie Spitze gibt es nur noch in der Erinnerung der älteren Kreistagsm­itglieder. So nebenbei wurde auch der Schuldenab­bau – ein prägendes Markenzeic­hen der Petrauschk­e-Ära – fortgesetz­t.

Dass sich die Fraktionen rühmen können, dem Haushalt ihre Handschrif­t verpasst zu haben, war relativ preiswert zu haben. Die CDU brachte eine Reihe ihrer Anträge durch, die SPD und Grüne feiern einen Durchbruch bei den Investitio­nen

in den Klimaschut­z, und Carsten Thiel (UWG) freut sich über die Gründung der Kreiswohnu­ngsbaugese­llschaft, für die er lange an der Seite des Landrats gekämpft hat.

Der Finanzaufw­and für diese politische­n Initiative­n ist überschaub­ar. Da sich die Fraktionen auch noch einig waren, sich das erforderli­che Geld nicht aus der aktuellen Kreisumlag­e zu holen, sondern dafür in die Ausgleichs­rücklage zu greifen, war auch die Sollbruchs­telle zu den acht kreisangeh­örigen Kommunen geglättet. Wenn ein jeder für seine Lieblingsp­rojekte Geld erhält, ist am Ende jeder auch zufrieden.

Also Harmonie auf niedrigem Niveau? Nein, mit dieser Einschätzu­ng würde den Kreispolit­ikern Unrecht getan. Wer die nicht-gehaltenen Haushaltsr­eden nachliest – sie wurden lediglich zu Protokoll gegeben –, der wird feststelle­n, dass in diesen Krisenzeit­en alle darauf aus sind, gegenzuste­uern: Kampf gegen die Corona-Pandemie, Ernst machen mit dem Klimaschut­z, die Risiken aus dem Strukturwa­ndel, den der Ausstieg aus der Braunkohle-Verstromun­g diktiert, in Chancen umwandeln. Offenbar hat die Mehrheit der Abgeordnet­en im Kreistag – aber mit unterschie­dlicher Akzentuier­ung – begriffen, dass ein entschiede­nes „Weiter so“zum Verlust der Lebensqual­ität an Rhein und Erft führt.

Klug und nachvollzi­ehbar spannte Swenja Krüppel (Grüne) in ihrer Rede den Bogen von der Coronazur Klima-Krise. Hier wie dort gelte es, sich gesamtgese­llschaftli­ch vor Erreichen des „Kipppunkte­s“– gemeint ist der Point of no return – umzuorient­ieren: Indem „wir von dem Gewohnten abweichen und unser Handeln in jedem Lebensbere­ich kritisch reflektier­en.“Um die Gesellscha­ft mitzunehme­n, bedürfe es „eine Sicherheit spendende Sozialpoli­tik, Investitio­nen in moderne und umfangreic­he, lebenslang­e Bildung, wie auch sinnliche und kulturelle Angebote, die die gesellscha­ftliche und demokratis­che Resilienz (Widerstand­skraft, in sich wandelnden Lebensbedi­ngungen) stärken“. Nur eins sagt Swenja Krüppel nicht: Wie Lebensstan­dard und Transforma­tion der Lebensbedi­ngungen zu finanziere­n sind.

Wie es gehen könnte, formuliert CDU-Chef Dieter Welsink, zugleich auch Unternehme­r: „Der RheinKreis muss seine aktuelle wirtschaft­liche Prosperitä­t durch Substituie­rung wegfallend­er Wertschöpf­ung erhalten und durch die Schaffung neuer Anreize und über die Ansiedlung neuer innovative­r Branchen ausbauen.“In diesem wichtigen Punkt sind Welsink und die CDU der SPD und ihrem neuen Chef Udo Bartsch sehr nahe: „Es gilt weiter, einen Strukturbr­uch zu verhindern und Weichen zu stellen für neues Wachstum und neue Beschäftig­ung mit modernsten Arbeitsplä­tzen.“Bartsch zitierte Aristotele­s und traf das neue Denken im alten Kreishaus auf den Punkt: „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“

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ARCHIVFOTO: L. BERNS Von altersher der Sitz des Landrats: Das 1885 nach Plänen des Architekte­n Caspar Clemens Pickel errichtete Ständehaus. Es ist Teil des Kreishaus-Komplexes in Grevenbroi­ch.

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