Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Arm und ausgegrenzt
Corona hat die Existenznöte der Roma in Südosteuropa grenzüberschreitend verschärft. Die Pandemie trifft die größte Minderheit auf dem Balkan und die Ärmsten in der Bevölkerung besonders hart.
NOVI SAD Bangladesh ist nicht weit. Doch kaum jemand der 340.000 Einwohner von Novi Sad hat sich jemals in die nur acht Kilometer vom Zentrum entfernte Siedlung verirrt. Hinter dem Zollamt führt ein mit Schlaglöchern übersäter Feldweg an das vergessene Ende der serbischen Stadt. Die gedrungenen Backsteinbauten seien „eigentlich nicht für Menschen, sondern für Rinder und Schweine“errichtet worden, berichtet der Familienvater Fadil Grekoli, während er über die Pfützen in den nicht asphaltierten Gassen der Siedlung stakt: „Wir lebten hier seit fast 40 Jahren ohne Stromund Wasseranschluss.“
Ein fernes Hämmern ertönt über den grauen Dächern von Bangladesh. Nach dem Brand in einem Roma-Viertel wurden deren Bewohner 1971 vorübergehend in den Ställen der früheren Landwirtschaftskooperative nördlich von Novi Sad untergebracht. Später seien noch Roma „aus allen Ecken und Enden Serbiens“in die Siedlung gekommen, berichtet der stoppelbärtige Fadil. Während offiziell von 255 Bewohnern die Rede ist, beziffert der Mann in der blau karierten Windjacke deren Zahl auf rund 500: „Die Armut ist groß. Und mit Corona ist alles noch schwieriger geworden.“
Auf zehn bis zwölf Millionen Menschen wird die Zahl der Roma in Südosteuropa geschätzt. Und ihre Situation hat sich durch Corona spürbar verschlechtert. Grenzüberschreitend hat die Pandemie die Existenznöte der Roma verschärft – und ihre Ausgrenzung verstärkt: Die Corona-Krise trifft den ärmsten Teil der Bevölkerung besonders hart.
Neugierig schnüffeln zwei herrenlose Hunde in den Müllresten. Lachend klackern Kinder mit ihren Murmeln im Straßenstaub. „Die meisten von uns leben vom Müll, vom Recycling“, erzählt Fadil: „Die Leute sammeln und sortieren Alteisen, Flaschen, Papier – und ernähren so ihre Kinder.“Ein Problem sei, dass die Stadt im ersten Jahr der Pandemie zeitweise das Sammeln von Müll verboten und die Polizei gegen Roma hohe Strafen verhängt habe: „Zu der ganzen Mühe, die Kinder über die Runden zu bringen, kamen auch noch die Bußgelder hinzu.“
Wegen Corona stoßen die Müllsammler aus Bangladesh in anderen Stadtteilen auf noch mehr Vorbehalte als sonst: „Die Leute haben Angst, dass wir uns bei unserer Arbeit an dem Müll infiziert haben könnten – und reagieren noch reservierter auf uns.“Geld für Schutzmasken oder -kleidung hätten nur die wenigsten: „Die meisten sind zu arm und gehen ohne Handschuhe zu Arbeit.“
Auch Tagelöhnerjobs auf den Baustellen und in den Fabriken der Region seien rarer geworden, so Fadil. Manchen Arbeitgebern sei es zwar egal, „wer Du bist und woher Du kommst. Aber andere nehmen Dich nicht, weil Du aus Bangladesh kommst und Rom bist. Und das ist mit Corona noch schlimmer geworden. Weil es ohnehin für alle weniger Arbeit und Geld gibt.“
Seinen Namen mag der verlegen lächelnde Mann im Blaumann lieber nicht nennen: Er habe „zu oft schlechte Erfahrungen“gemacht. Als einer der ersten in der Siedlung hatte er einst die Mittlere Reife erlangt, danach in einer nahen Kabelfabrik gar eine Festanstellung gefunden. Doch in der Krise seien viele Mitarbeiter entlassen worden. Selbst arbeite er derzeit nur noch tageweise: „Ich erhalte nur noch die Hälfte meines Gehalts.“
Sorgen bereitet dem jungen Familienvater der Online-Unterricht, den die rund 100 Kinder der Siedlung praktisch nicht verfolgen könnten. Der Rückstand sei kaum mehr wettzumachen: „Ich fürchte, dass unsere Kinder wegen Corona massenhaft aus dem Bildungssystem fallen werden“.
Früher hatte der einstige Lehrer Stevica Nikolic auch die Kinder von Bangladesh unterrichtet. Schon ohne Covid hätten die Roma in Serbien als „Kollateralschäden“der Kriege und der endlosen Wirtschaftstransformation in einer „permanenten Krise“gelebt, berichtet der hauptamtliche Mitarbeiter der Selbsthilfeorganisation „Roma Opre Srbija“in Novi Sad: „Das Virus hat unsere Lage verschlimmert und die Probleme freigelegt, mit denen wir Roma uns alltäglich konfrontiert sehen.“
Ein gewaltiges Schwein döst grunzend im übelriechenden Schlamm neben den Fäkaliengruben von Bangladesh. 70 Prozent der serbischen Roma-Siedlungen sind nicht kanalisiert. 38 Prozent der Gebäude verfügen über keinen eigenen Wasseranschluss. „Wenn es hier regnet, haben wir ein größeres Problem als Corona“, ätzt Fadil Grekoli bitter: „Dann laufen die Gruben über, und wir stehen in den Häusern in unserer eigenen Jauche.“
Selbst einfache Präventivregeln wie Händewaschen und Distanz können in Roma-Siedlungen wie in Bangladesh nur mit Mühe befolgt werden. Den meisten fehle es nicht nur am Internetanschluss, um die Kinder den Unterricht verfolgen oder sich selbst für eine Impfung registrieren lassen zu können, berichtet Fadil: „Manche haben nicht einmal ein Badezimmer. Sie kochen Wasser in einem Kessel und waschen sich in einer Wanne.“Nicht alle könnten sich zudem Brennholz kaufen: „Manche heizen auch mit alten Sportschuhen oder mit Autoreifen.“
In den Nachbarländern sieht die Lage für die Minderheit nicht besser aus. Viele bulgarische Roma hätten während der Pandemie ihre Jobs oder ihren Lebensunterhalt verloren, berichtet am Telefon der Roma-Aktivist Emil Metodiew aus Sofia. Gleichzeitig habe sich der von Medien und Politikern geschürte „Hass und die Dämagogie“im ärmsten EU-Staat gegenüber der Minderheit noch verstärkt: „Monatelang wurde behauptet, dass wir Roma das Virus verbreiten, und gefordert, dass wir eingeschlossen und isoliert werden sollten.“
Dabei leben die Roma auf dem Balkan ohnehin oft in völlig abgelegenen Siedlungen. Auch in Bulgarien würden Roma meist getrennt von den Stadtzentren „hinter Schienen, Brücken, Flüssen und Mauern“wohnen, so der Aktivist der „Ständigen Roma Konferenz“: „Es ist leicht, die Siedlungen abzuschließen. Es genügt dazu oft nur ein Streifenwagen an deren Eingang.“
Mit einer Impfrate von nur 5,9 Prozent liegt das rückständigste EU-Mitglied weit unter dem EU-Mittelwert von 13,3 Prozent. Obwohl Roma eine zehn Jahre kürzere Lebenserwartung als ihre Landsleute hätten und wegen ihrer schlechten Gesundheitsversorgung und fehlender Krankenversicherungen „besonders gefährdet“seien, sei für sie die Impfung erst „in der allerletzten Phase“vorgesehen, klagt Metodiew: „Die Roma haben einfach keinerlei Priorität.“
Impfstoff gibt es in Serbien eigentlich genug. Aber dennoch sind in Bangladesh bisher nur zwei Bewohner geimpft. Nicht nur das Misstrauen in staatliche Institutionen, sondern auch die über die Boulevardmedien verbreitete Impfskepsis sowie den begrenzten Internetund Informationszugang macht Nikolic für die bisher nur sehr geringe Zahl von geimpften Roma verantwortlich. Zwar habe „Opre Roma“in Workshops mit Roma-Ärzten eine Informations- und Impfstrategie für die Minderheit ausgearbeitet, doch diese sei in Belgrad kaum auf Anklang gestoßen. Die bisher einmalige Impfaktion in einer der Roma-Siedlungen in Nis bezeichnet er als „reine PR-Aktion“: „Die Politik wird sie bei uns meist nur aktiv, wenn sie eigene Interessen wittert.“
Zumindest im Stimmenstreit finden auch Serbiens Würdenträger den Weg nach Bangladesh. Vor den letzten Wahlen sei den Bewohnern der Abriss der alten Ställe und der Bau einer neuen Fertighaussiedlung mit den Namen „Grünes Bangladesh“gelobt worden, berichtet Fadil: „In den schönen Plänen fehlt nur noch ein Musikspringbrunnen.“Bis auf Probebohrungen zur Messung des Grundwasserspiegel sei bisher allerdings nichts geschehen: „Ich glaube erst an die neue Siedlung erst, wenn hier tatsächlich die Bagger anrollen.“
Dunkle Wolken ziehen über den Stallverschlägen von Bangladesh auf. Mit verdüsterten Mienen sprechen die Männer auf der Hauptstraße über das Unglück, das eine der 40 Roma-Siedlungen in der Hauptstadt Belgrad ereilte. Ein 14-jähriger Junge starb, zwei weitere Kinder wurden durch einen Stromschlag im Vorort Cukurica lebensgefährlich verletzt, als sie auf einem unter einem Hochspannungsmasten aufgetürmten Bauschutthügel spielten.
„Opre Roma“bereitet eine Klage gegen den Stromversorger und die zuständigen Behörden wegen der mangelhaften Absicherung der Hochspannungsleitungen vor. Familienvater Fadil glaubt indes nicht, dass für das Unglück „irgendjemand zur Rechenschaft gezogen werden wird“. Sein Sohn sei von einem Polizisten auf dem Schulhof verprügelt und bedroht worden. Er sei zur Polizei gegangen und habe den Mann angezeigt: „Was kam dabei raus? Nichts. Auf der Polizeiwache haben sie nur mich selbst bedroht.“
Selbst aus Serbiens Einwohnerstatistiken sind viele Roma inzwischen unfreiwillig getilgt worden. Weil sich Novi Sad mit den angrenzenden Kommunen nicht einigen könne, zu welchem Territorium die Siedlung eigentlich gehöre, könnten die Bewohner von Bangladesh sich weder registrieren lassen noch ihre neugeborenen Kinder anmelden, klagt Fadil: „Aber wenn Du nicht registriert bist, kannst Du auch nirgendwo etwas beantragen. Das einzige, was uns immer sehr zuverlässig erreicht, sind die Rechnungen, die wir bezahlen sollen.“
„Wir lebten hier seit fast 40 Jahren ohne Strom- und Wasseranschluss“
Fadil Grekoli Roma-Familienvater in Bangladesh