Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Die Kohle der Zukunft
Wasserstoff gilt als Wunderwaffe im Kampf gegen den Klimawandel. Aus NRW soll so das Industrieland von morgen werden.
Mit Wasserstoff fängt alles an: die Erdgeschichte – ohne das schlichte Gas gebe es weder Wasser noch Leben auf der Welt; das Periodensystem der Elemente – wer erinnert sich nicht an seinen Chemieunterricht; und die Klimawende. „Wasser ist die Kohle der Zukunft“, schrieb der Science-Fiction-Autor Jules Verne. Doch es brauchte 150 Jahre, damit sich seine Vision in Handeln umsetzt. Jetzt sollen Wirtschaft und Verkehr im großen Stil auf Wasserstoff umgerüstet werden, der aus Wasser gewonnen werden kann. „Wasserstoff bietet uns riesige Chancen auf dem Weg zu einer grünen und modernen Industrie“, sagt NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart. Tatsächlich soll das Land der 1000 Feuer bei der Wasserstoffstrategie eine besondere Rolle spielen.
Wasserstoff kommt im Universum in großen Mengen vor, man kann ihn auch industriell herstellen. Klimafreundlich ist das Ganze dann, wenn man ihn per Elektrolyse aus Wasser gewinnt. Das ist ein chemischer Prozess, bei dem mit Strom Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten wird. Wenn der Strom aus erneuerbaren Energien kommt, spricht man von grünem Wasserstoff.
Wasserstoff macht der grünen Energie Beine. Denn Ökostrom kann nicht immer dort erzeugt werden, wo er benötigt wird. Norddeutschland hat viel Wind, aber die Industriezentren liegen im Süden. Die Wasserstoff-Hersteller (Elektrolyseure) können sich dort ansiedeln, wo Ökostrom verfügbar ist. Unter Druck verflüssigt, macht Wasserstoff den Ökostrom per Schiff und Lkw mobil. „Shipping the sunshine“heißt das Motto: Auch der Sonnenstrom
Afrikas lässt sich in Form von Wasserstoff verschiffen. Daneben kann er per Pipeline transportiert werden. Europa ist durchzogen von Erdgas-Röhren, die umgerüstet werden könnten.
Wasserstoff ist ein wahres Wundermittel. Busse und Autos, die damit fahren, tanken statt Diesel das grün erzeugte Gas. Wuppertal setzt bereits Wasserstoffbusse ein. Siemens entwickelt Wasserstoffzüge, die Dieselloks ersetzen sollen – und womöglich mal in Krefeld gebaut werden. Airbus hat angekündigt, bis 2035 ein Passagierflugzeug mit Wasserstoffantrieb herzustellen.
Wasserstoff kann aber auch Rohstoff sein. Das ist die große Hoffnung der Stahlindustrie, die 30 Prozent der industriellen CO2-Emissionen verursacht. Die Idee: Im Hochofen wird dem Eisenerz Wasserstoff statt der klimaschädlichen Kokskohle als Reduktionsmittel zugesetzt. Und während beim Einsatz von Kokskohle als Nebenprodukt Kohlendioxid entsteht, ist es beim Einsatz von Wasserstoff nur Wasserdampf.
Für NRW ist Wasserstoff eine große Chance. Das Gas ist die Zukunft für die Stahlindustrie. Zugleich gibt es viele Unternehmen, die selbst in der Erzeugung und Verteilung groß werden können. „Konsequent eingesetzt, können wir mit Wasserstoff in Zukunft ein Viertel unserer heutigen CO2-Emissionen einsparen“, rechnet Pinkwart vor. „Auch wirtschaftlich erwarten wir einen Schub: Bis zu 130.000 zusätzliche Arbeitsplätze können in NRW entstehen.“
Bis 2025 sollen erste Projekte umgesetzt sein: Bei Thyssenkrupp soll die erste große Anlage zur Erzeugung von Stahl auf Basis von Wasserstoff entstehen. In Wesseling könnte eine Anlage zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe für Autos
Die Wasserstoffindustrie in der Metropole Ruhr ist weiter entwickelt als andernorts errichtet werden. Landesweit sind 20 Wasserstoff-Tankstellen für Lkw und 60 für Pkw geplant. Im öffentlichen Nahverkehr sollen 500 Wasserstoff-Busse unterwegs sein. Das Gaseunternehmen Air Liquide, dessen Deutschland-Zentrale in Düsseldorf
liegt, betreibt das größte Wasserstoffnetz in Deutschland, das 240 Kilometer lang ist. In Marl befindet sich Europas größtes Abfüll-Center für Wasserstoff. In Mülheim produziert Europipe Röhren, wie sie für das Pipeline-System nötig werden. RWE baut Elektrolyseanlagen, die Ökostrom in grünen Wasserstoff umwandeln. Der Chemiekonzern Evonik liefert Hightech-Membrane, die für die Elektrolyseure nötig sind.
Die Technik ist faszinierend, hat aber ihren Preis. In die deutschen Hüttenwerke müssten bis 2050 für die Umstellung 30 Milliarden Euro investiert werden. Gerade verhandeln Bund und Stahlkonzerne über Subventionen. Aber auch der Rohstoff kostet noch zu viel: Grüner Stahl ist 20 Prozent teurer als herkömmlich erzeugter. Ohne Subventionen wäre er auf dem Weltmarkt chancenlos. Für die Wirtschaftlichkeit von Wasserstoff sind die Kosten des Ökostroms entscheidend. In Deutschland ist er viel zu teuer.
Zudem muss Deutschland ein Transportnetz aufbauen. Die Niederländer zeigen, wie man es macht. In kurzer Zeit haben sie eine Pipeline errichtet, die Wasserstoff vom Rotterdamer Hafen an die deutsche Grenze bringt. Eine 14-jährige Hängepartie wie bei der Kohlenmonoxid-Pipeline von Bayer/Covestro darf sich das Land nicht noch mal leisten. Zugleich muss man sehen, wie man der Stahlindustrie bei der Umrüstung helfen kann, ohne sie aus der Eigenverantwortung zu entlassen.
Das Institut der deutschen Wirtschaft kommt zu einem gemischten Bild: „Der Metropolenvergleich verdeutlicht, dass die Wasserstoffindustrie in der Metropole Ruhr heute weiter entwickelt ist als andernorts.“Die Forscher mahnen aber auch: „Nur wenn alte und neue industrielle Prozesse zusammengeführt und neu gedacht werden, kann die Industriebeschäftigung am Standort aufrechterhalten werden.“
Viele Hausaufgaben, eine starke Vision: NRW bleibt Industrieland – und doch wird der Himmel über Rhein und Ruhr frei von CO2. Jules Vernes jedenfalls war überzeugt: „Die Elemente des Wassers werden auf unabsehbare Zeit hinaus die Energieversorgung der Erde sichern.“