Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Alarm in Israel
GAZA/TEL AVIV Es ist die wohl schwerste Eskalation seit Jahren: Fast minütlich heulen am Dienstag in den Küstenstädten Aschdod und Aschkelon im Süden Israels die Sirenen und warnen vor eintreffenden Raketen. Auch in Tel Aviv wurde am Dienstagabend Raketenalarm ausgelöst, im Stadtzentrum waren Explosionen zu hören. Als Reaktion auf die Angriffe schloss Israel den internationalen Flughafen der Stadt. Die Verkehrsbehörde teilte am Dienstagabend mit, dieser Schritt sei notwendig, „um die Verteidigung des Himmels über dem Land zu ermöglichen“. Die israelische Armee hatte im Gaza-Streifen zuvor ein Gebäude mit Büros von Mitgliedern des Hamas-Politbüros und Sprechern der islamistischen Palästinenserorganisation zerstört.
Mindestens zwei israelische Frauen wurden am Dienstagnachmittag getötet, als Raketen auf ihren Häusern landeten, mindestens sechs Menschen wurden verletzt. Die Raketenangriffe der Hamas hatten am Montagabend begonnen, nachdem ein von der Organisation gestelltes Ultimatum abgelaufen war. Pünktlich um sechs fielen die ersten Raketen auf israelisches Gebiet, ungewöhnlicherweise auch auf Jerusalem.
Die israelische Luftwaffe fliegt seit Montagabend mit 80 Kampfjets Vergeltungsangriffe auf den Gazastreifen. Dabei wurden bisher nach Angaben des Militärs 130 Ziele getroffen, darunter das Haus eines Kommandeurs der Hamas. Bisher sollen bei den Angriffen in Gaza mindestens 28 Menschen getötet worden sein, unter ihnen zehn Kinder. Mehr als 100 Personen wurden verletzt.
Anlass für die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen war die Eskalation an der Al-Aksa-Moschee, wo am Montag 300 Palästinenser bei Zusammenstößen mit der Polizei verletzt wurden, und im arabischen Stadtteil Scheich Dscharrah, wo sich derzeit palästinensische Israelis gegen Zwangsräumungen wehren. „Israel“, so teilte der bewaffnete Arm der Hamas mit, werde wegen „seiner Verbrechen und Aggression gegen die Heilige Stadt und seiner Übergriffe gegen unser Volk in Scheich Dscharrah“beschossen.
Auch auf den Straßen Israels eskalierte die Situation weiter. In Lod, einer jüdisch-arabisch gemischten Stadt südlich von Tel Aviv, wurde bei Zusammenstößen zwischen Polizei und palästinensischen Israelis in der Nacht auf Dienstag ein palästinensischer Israeli erschossen. Noch ist der genaue Hergang unklar. Auf den
Straßen sind dieser Tage immer wieder die grünen Fahnen der Hamas zu sehen, die die Proteste offensichtlich befeuert. „Die Hamas hat sehr schnell verstanden, dass sie in diesem Moment die Chance hat, den Kampf um die Al-Aksa-Moschee, die angespannte Atmosphäre um den Ramadan und die Wut über die Absage der palästinensischen Wahlen vor zwei Wochen zu verbinden und gegen Israel zu lenken“, erklärt Ronni Shaked, Nahostexperte am Harry S. Truman Institute für Friedensentwicklung in Jerusalem.
Israel andererseits sei, so kritisiert Shaked, in den vergangen Wochen mit dem Rezept „Wie man einen Krieg kocht“vorgegangen: Vor drei Wochen sperrte die israelische Polizei die Treppen vor dem Damaskustor in Ostjerusalem ab, dem traditionellen Treffpunkt im Fastenmonat Ramadan schlechthin. Der Flaggenmarsch von ultrarechten jüdischen Nationalisten durch das arabische Viertel in der Altstadt Jerusalems und die Besuche von Juden auf dem Tempelberg während des Fastenmonats Ramadan seien weitere Provokationen gewesen.
Die israelische Armee ließ verlautbaren, lediglich in der Anfangsphase der Angriffe auf militärische Ziele im Gazastreifen zu sein, und bereitet sich auf eine weitere Eskalation vor. Die meisten Beobachter gehen wie Shaked jedoch davon aus, dass mit einer dritten Intifada nicht zu rechnen sei. „Die Hamas hat ihren kleinen Sieg bereits mit dem Abfeuern von Raketen auf Jerusalem errungen. Keine der Parteien ist an einem anhaltenden Krieg oder einer dritten Intifada interessiert.“
Innenpolitisch könnte diese Runde der Eskalation langanhaltende Spuren hinterlassen – und Regierungschef Benjamin Netanjahu könnten sie zugutekommen. Israel steckt mitten in Verhandlungen zur Regierungsbildung. Nachdem Netanjahu dabei gescheitert ist, versucht nun Oppositionsführer Jair Lapid von der Zukunftspartei sein Glück. Teil der angestrebten Einheitsregierung ist die arabisch-islamische Partei Ra’am. Deren Vorsitzender Mansour Abbas hat nun die Koalitionsverhandlungen vorerst auf Eis gelegt. (mit ap und dpa)