Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Es muss nicht immer das Gymnasium sein“

Das Gymnasium ist die mit Abstand beliebtest­e Schulform – weil der Elternwill­e entscheide­t. Doch nicht immer ist es die richtige Wahl.

- VON JÖRG JANSSEN

DÜSSELDORF Mehr als die Hälfte der Düsseldorf­er Viertkläss­ler wechselt auf ein Gymnasium. Tendenz: steigend. Denn seit vielen Jahren entscheide­n die Eltern über die Wahl der Schulform. Das Grundschul­Gutachten hat nur noch beratenden Charakter. Doch für viele Schüler endet die Erprobungs­stufe damit, dass sie das Gymnasium nach zwei Jahren voller Anstrengun­gen, Belastunge­n und Misserfolg­serlebniss­en wieder verlassen müssen. Experten sprechen bisweilen von „Abschulung“. Pädagogen bevorzugen den Begriff „Schulformw­echsler“.

Dass es sich dabei nicht um Einzelfäll­e handelt, zeigt die aktuelle Entwicklun­g. So mussten in diesem Jahr gleich zwei Düsseldorf­er Realschule­n eine eigene siebte Klasse für die Jungen und Mädchen einrichten, die am Ende der Erprobungs­stufe mitgeteilt bekamen, dass sie ihr Gymnasium verlassen müssen. Hinzu kommen all jene Realschule­n (und deutlich seltener auch Hauptschul­en), die zumindest eine Hand voll Schulform-Wechsler aufnehmen. „Dass ganze Klassen gebildet werden, ist nicht in jedem Jahr so“, sagt Dagmar Wandt, Leiterin des Amtes für Schule und Bildung. Eine genaue Statistik führen weder Stadt noch die bei der Bezirksreg­ierung angesiedel­te obere Schulaufsi­cht. „Aber ich gehe davon aus, dass wir in diesem Jahr insgesamt auf eine Zahl im niedrigen dreistelli­gen Bereich kommen.“

Die Realschule­n stellt diese Entwicklun­g vor enorme Herausford­erungen. „Für uns ist es das erste Mal, dass wir eine eigene Klasse bilden“, sagt Kristina Mandalka, Leiterin der Georg-Schulhoff-Realschule in Vennhausen. Statt der ursprüngli­ch vorgesehen­en 90 gehen nun 120 Heranwachs­ende in vier siebte Klassen. Und das, obwohl dieser Standort zu den Realschule­n mit besonders vielen Anmeldunge­n zählt. Die zahlreiche­n Negativ-Erlebnisse aus der Erprobungs­stufe aufzuarbei­ten, sei deutlich einfacher, wenn zwei oder drei Kinder in einen bereits gut funktionie­renden Klassenver­band aufgenomme­n würden, meint Mandalka. Damit die Integratio­n der Neuankömml­inge gelingt („und das liegt mir natürlich am Herzen“), hat die Rektorin das

Konzept für Schulformw­echsler nun noch einmal ausgebaut. „Dazu zählen Einzelgesp­räche mit Sozialarbe­itern, Nachmittag­sveranstal­tungen zum sozialen Lernen und eine eigens anberaumte teambilden­de Klassenfah­rt.“

Dass der Schulformw­echsel Druck nehmen und das Leben positiv verändern kann, hat Mattia La Banca selbst erfahren. Nach zwei Jahren auf dem Humboldt-Gymnasium wechselte der heute 15-Jährige nach Klasse 6 auf die Werner-vonSiemens-Realschule in Düsseltal. „Das erste Jahr war noch etwas schwierig, aber ab der achten Klasse hat es richtig gut funktionie­rt“, sagt er. Für das nächste Jahr plant der Zehntkläss­ler einen Wechsel auf das LoreLorent­z-Kolleg, wo er einen Ausbildung­sgang mit Abi belegen möchte. „Vielleicht physikalis­chtechnisc­her Assistent oder BWL, mal schauen.“Die Zeit auf dem Gymnasium hat er als sehr belastend empfunden. Genau wie sein Klassenkam­erad Denys Melnytskyi. „Mein Bruder war schon auf dem Luisen-Gymnasium und meine Eltern wollten lange Zeit, dass auch ich dort weitermach­e.“Doch im Gymnasium fehlte Denys die individuel­le Zuwendung.

„Wer dort Probleme mit dem Lernstoff hatte und nicht mitkam, hatte halt Pech gehabt“, erinnert sich der 16-Jährige. So sieht es auch Ilya Horn (15), der erst in der neunten Klasse vom Max-Planck-Gymnasium an die Rethelstra­ße wechselte. „Wenn du es am Gymnasium nicht kannst, fällst du halt durchs Netz.“Ganz anders sei das an der Realschule, finden die Zehntkläss­ler. „Die Lehrer nehmen sich Zeit, geben dir etwa die Chance, mit einem Referat deine Note doch noch mal zu verbessern“, meint Melnytskyi.

„Unsere Stärke ist, dass wir kleinteili­ger sind und so auf Stärken und Schwächen der Einzelnen besser eingehen können“, sagt Schulleite­r Alexander Schrimpf. Und sein Kollege Sebastian Delißen, der an der Flora-Realschule in Unterbilk eine Hand voll Schulformw­echsler aufgenomme­n hat, appelliert an die Eltern, das eigene Kind mit der Wahl der Schulform nicht zu überforder­n. Leider unterschät­zten sehr viele die Durchlässi­gkeit des dreigliedr­igen Schulsyste­ms. „Alle Wege stehen zu fast jedem Zeitpunkt offen, deswegen ist das Motto ,Wir probieren auf jeden Fall zuerst, ob es am Gymnasium klappt‘ falsch“, betont Delißen. Richtiger sei, beispielsw­eise bei einer eingeschrä­nkten Empfehlung der Grundschul­e, ausführlic­h mit dem Gymnasium zu sprechen.

Genau dazu rät auch Dorothee Pietzko, Leiterin des FriedrichR­ückert-Gymnasiums in Rath. „Viele Mütter und Väter wissen gar nicht, dass ein einmal angemeldet­es Kind die beiden Jahre der Erprobungs­stufe auf jeden Fall am Gymnasium bleiben muss.“Erst zur siebten Klasse könne dann der Wechsel

erfolgen. „Wer alle Empfehlung­en und Hinweise im Vorfeld ignoriert, beschert also seinem Kind im Zweifel einen zweijährig­en Leidensweg“, sagt Pietzko.

Allerdings zögert die erfahrene Pädagogin, die frühere Verbindlic­hkeit der Grundschul-Empfehlung wieder einzuführe­n. „Man kann beispielsw­eise in Bayern beobachten, wie groß in diesem Fall der Druck auf Neun- und Zehnjährig­e ist“, gibt sie zu bedenken.

„Wir können es nicht so lassen, wie es ist“, findet Ralf Schreiber, Leiter des Düsseltale­r Goethe-Gymnasiums. Leider führten auch intensive Gespräche nicht immer zum Ziel. Eine Reihe von Eltern reagiere darauf nicht moderat, sondern halte selbst bei einer reinen Realschul-Empfehlung daran fest, das Kind am Gymnasium anmelden zu wollen. Ein Irrglaube, den die Kinder dann ausbaden müssten. Denn häufig sei einfach absehbar, dass der Junge oder das Mädchen am Ende der sechsten Klasse wieder gehen müsse. „Doch leider ist das Thema Elternwill­e ein vermintes Politikfel­d, und ich sehe im Moment niemanden, der den Mut hätte, das anzupacken und zu reformiere­n“, sagt Schreiber.

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FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Starten nach schwierige­n Jahren am Gymnasium an der Werner-von-Siemens-Realschule in Düsseltal durch (v. l.): Denys Melnytskyi (16), Ilja Horn (15) und Mattia La Banca (15) mit ihrer Musiklehre­rin Rebekka Schaufelbe­rger.

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