Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Es muss nicht immer das Gymnasium sein“
Das Gymnasium ist die mit Abstand beliebteste Schulform – weil der Elternwille entscheidet. Doch nicht immer ist es die richtige Wahl.
DÜSSELDORF Mehr als die Hälfte der Düsseldorfer Viertklässler wechselt auf ein Gymnasium. Tendenz: steigend. Denn seit vielen Jahren entscheiden die Eltern über die Wahl der Schulform. Das GrundschulGutachten hat nur noch beratenden Charakter. Doch für viele Schüler endet die Erprobungsstufe damit, dass sie das Gymnasium nach zwei Jahren voller Anstrengungen, Belastungen und Misserfolgserlebnissen wieder verlassen müssen. Experten sprechen bisweilen von „Abschulung“. Pädagogen bevorzugen den Begriff „Schulformwechsler“.
Dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt, zeigt die aktuelle Entwicklung. So mussten in diesem Jahr gleich zwei Düsseldorfer Realschulen eine eigene siebte Klasse für die Jungen und Mädchen einrichten, die am Ende der Erprobungsstufe mitgeteilt bekamen, dass sie ihr Gymnasium verlassen müssen. Hinzu kommen all jene Realschulen (und deutlich seltener auch Hauptschulen), die zumindest eine Hand voll Schulform-Wechsler aufnehmen. „Dass ganze Klassen gebildet werden, ist nicht in jedem Jahr so“, sagt Dagmar Wandt, Leiterin des Amtes für Schule und Bildung. Eine genaue Statistik führen weder Stadt noch die bei der Bezirksregierung angesiedelte obere Schulaufsicht. „Aber ich gehe davon aus, dass wir in diesem Jahr insgesamt auf eine Zahl im niedrigen dreistelligen Bereich kommen.“
Die Realschulen stellt diese Entwicklung vor enorme Herausforderungen. „Für uns ist es das erste Mal, dass wir eine eigene Klasse bilden“, sagt Kristina Mandalka, Leiterin der Georg-Schulhoff-Realschule in Vennhausen. Statt der ursprünglich vorgesehenen 90 gehen nun 120 Heranwachsende in vier siebte Klassen. Und das, obwohl dieser Standort zu den Realschulen mit besonders vielen Anmeldungen zählt. Die zahlreichen Negativ-Erlebnisse aus der Erprobungsstufe aufzuarbeiten, sei deutlich einfacher, wenn zwei oder drei Kinder in einen bereits gut funktionierenden Klassenverband aufgenommen würden, meint Mandalka. Damit die Integration der Neuankömmlinge gelingt („und das liegt mir natürlich am Herzen“), hat die Rektorin das
Konzept für Schulformwechsler nun noch einmal ausgebaut. „Dazu zählen Einzelgespräche mit Sozialarbeitern, Nachmittagsveranstaltungen zum sozialen Lernen und eine eigens anberaumte teambildende Klassenfahrt.“
Dass der Schulformwechsel Druck nehmen und das Leben positiv verändern kann, hat Mattia La Banca selbst erfahren. Nach zwei Jahren auf dem Humboldt-Gymnasium wechselte der heute 15-Jährige nach Klasse 6 auf die Werner-vonSiemens-Realschule in Düsseltal. „Das erste Jahr war noch etwas schwierig, aber ab der achten Klasse hat es richtig gut funktioniert“, sagt er. Für das nächste Jahr plant der Zehntklässler einen Wechsel auf das LoreLorentz-Kolleg, wo er einen Ausbildungsgang mit Abi belegen möchte. „Vielleicht physikalischtechnischer Assistent oder BWL, mal schauen.“Die Zeit auf dem Gymnasium hat er als sehr belastend empfunden. Genau wie sein Klassenkamerad Denys Melnytskyi. „Mein Bruder war schon auf dem Luisen-Gymnasium und meine Eltern wollten lange Zeit, dass auch ich dort weitermache.“Doch im Gymnasium fehlte Denys die individuelle Zuwendung.
„Wer dort Probleme mit dem Lernstoff hatte und nicht mitkam, hatte halt Pech gehabt“, erinnert sich der 16-Jährige. So sieht es auch Ilya Horn (15), der erst in der neunten Klasse vom Max-Planck-Gymnasium an die Rethelstraße wechselte. „Wenn du es am Gymnasium nicht kannst, fällst du halt durchs Netz.“Ganz anders sei das an der Realschule, finden die Zehntklässler. „Die Lehrer nehmen sich Zeit, geben dir etwa die Chance, mit einem Referat deine Note doch noch mal zu verbessern“, meint Melnytskyi.
„Unsere Stärke ist, dass wir kleinteiliger sind und so auf Stärken und Schwächen der Einzelnen besser eingehen können“, sagt Schulleiter Alexander Schrimpf. Und sein Kollege Sebastian Delißen, der an der Flora-Realschule in Unterbilk eine Hand voll Schulformwechsler aufgenommen hat, appelliert an die Eltern, das eigene Kind mit der Wahl der Schulform nicht zu überfordern. Leider unterschätzten sehr viele die Durchlässigkeit des dreigliedrigen Schulsystems. „Alle Wege stehen zu fast jedem Zeitpunkt offen, deswegen ist das Motto ,Wir probieren auf jeden Fall zuerst, ob es am Gymnasium klappt‘ falsch“, betont Delißen. Richtiger sei, beispielsweise bei einer eingeschränkten Empfehlung der Grundschule, ausführlich mit dem Gymnasium zu sprechen.
Genau dazu rät auch Dorothee Pietzko, Leiterin des FriedrichRückert-Gymnasiums in Rath. „Viele Mütter und Väter wissen gar nicht, dass ein einmal angemeldetes Kind die beiden Jahre der Erprobungsstufe auf jeden Fall am Gymnasium bleiben muss.“Erst zur siebten Klasse könne dann der Wechsel
erfolgen. „Wer alle Empfehlungen und Hinweise im Vorfeld ignoriert, beschert also seinem Kind im Zweifel einen zweijährigen Leidensweg“, sagt Pietzko.
Allerdings zögert die erfahrene Pädagogin, die frühere Verbindlichkeit der Grundschul-Empfehlung wieder einzuführen. „Man kann beispielsweise in Bayern beobachten, wie groß in diesem Fall der Druck auf Neun- und Zehnjährige ist“, gibt sie zu bedenken.
„Wir können es nicht so lassen, wie es ist“, findet Ralf Schreiber, Leiter des Düsseltaler Goethe-Gymnasiums. Leider führten auch intensive Gespräche nicht immer zum Ziel. Eine Reihe von Eltern reagiere darauf nicht moderat, sondern halte selbst bei einer reinen Realschul-Empfehlung daran fest, das Kind am Gymnasium anmelden zu wollen. Ein Irrglaube, den die Kinder dann ausbaden müssten. Denn häufig sei einfach absehbar, dass der Junge oder das Mädchen am Ende der sechsten Klasse wieder gehen müsse. „Doch leider ist das Thema Elternwille ein vermintes Politikfeld, und ich sehe im Moment niemanden, der den Mut hätte, das anzupacken und zu reformieren“, sagt Schreiber.