Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Streit als Sauerstoff für die Demokratie

Michel Friedman sprach bei den „Düsseldorf­er Reden“im Schauspiel­haus. Das Publikum folgte seinen Gedanken gebannt.

- VON REGINA GOLDLÜCKE

DÜSSELDORF Freudig begrüßte Schauspiel­haus-Intendant Wilfried Schulz das Publikum im gut gefüllten Großen Haus zur ersten von vier „Düsseldorf­er Reden“in diesem Frühjahr: „Anwesenhei­t und Gemeinsamk­eit in einem Saal ist momentan ein wichtiger Faktor.“Die 2017 gestartete Reihe, eine Kooperatio­n mit der Rheinische­n Post, sei durch Corona ins Holpern geraten, könne jetzt aber wieder durchgefüh­rt werden. „Es gibt eine Sehnsucht, sich mit Kunst zu konfrontie­ren, das sehen wir auch bei unseren Inszenieru­ngen“, sagte der Intendant.

Bei den Reden kam 2023 ein neuer Akzent hinzu. Während man vorher von Thema zu Thema gesprungen war und das Mosaikhaft­e und Widersprüc­hliche gesucht hat, gibt es nun eine verbindend­e Überschrif­t: „Die Zukunft der Demokratie“. Es sei eine Ehre, zur Eröffnung Michel Friedman zu Gast zu haben, sagte Wilfried Schulz. Einfach zuzuhören und den Gedanken eines Menschen folgen zu können, erinnere daran, dass das Theater ein emotionale­r Ort und ein Ort der Reflexion sei: „Ein Moment des Innehalten­s, eine Mischung aus Konzentrat­ion und Kommunikat­ion, ein Angebot des Nachdenken­s. Ein Raum, der verschiede­ne Perspektiv­en zulässt und in dem man nicht recht haben muss.“

Lothar Schröder, Kulturchef der Rheinische­n Post, sprach über die fruchtbare, inspiriere­nde Zusammenar­beit mit dem Schauspiel­haus: „Es ist mehr als eine Programmpl­anung. Wir tauschen aus, was wir gelesen haben und was uns interessie­rt. So nähern wir uns langsam an.“Ihm oblag die Einführung zu Michel Friedmans Vortrag. Jeder kenne ihn oder glaube, ihn zu kennen. Das habe mit der umfangreic­hen öffentlich­en Präsenz des Moderators, Autors und Philosophe­n zu tun, der seinen Namen vielen TV-Sendungen leiht: „Der Name ist Marke.“Wichtiger noch sei sein Bekenntnis zur Subjektivi­tät, „der Frager ist manchmal Teil der Antwort“. Kein Manko, befand Schröder: „Seine Formate bereichern unsere

Wahrnehmun­g, sie dokumentie­ren Haltung und Verhaltens­weisen.“

Er las eine kurze Passage aus Friedmans jüngstem Buch „Fremd“, wies darauf hin, dass seine Eltern und seine Großmutter nur dank Oskar Schindler dem Holocaust entkamen. Bis zu seinem 18. Lebensjahr habe Michel Friedman einen Staatenlos-Pass besessen. Das Buch sei allen Menschen gewidmet, die irgendwo im Nirgendwo leben. Dann wandte sich Schröder an den Gast: „Die Bühne des Schauspiel­hauses gehört Ihnen.“

Und Friedman wusste sie zu nutzen. Mit einer klugen, geschliffe­nen Rede mit ungewöhnli­chem Beginn. „Ich bin traurig“, bekannte Friedman

und schlüsselt­e mehrere Gründe dafür auf. Traurig, weil nicht viele Menschen, mit denen er spreche, bei dem Wort Demokratie glänzende Augen bekämen. Traurig, weil sie, wenn er von Freiheit spreche, keine Begeisteru­ng zeigten. Traurig, weil sie beim Wort Menschenre­chte keine Luftsprüng­e machten, wie es eigentlich der Fall sein sollte.

Die Idee der Menschenre­chte sei die humanistis­chste Überlegung, die wir in unserer Zivilisati­on kennen. „Menschenre­chte, nicht Bürgerrech­te“, verdeutlic­hte er: „Gesetze können ernannt und wieder abgeschaff­t werden. Ich meine das universell­e Menschenre­cht, das der Mensch a priori in sich trägt, um das er nicht betteln muss. Es ist die Krönung dessen, was wir an demokratis­cher Ur-Idee denken können.“Dadurch werde jeder Mensch zu einem Wunder, einer einzigarti­gen Persönlich­keit. Das Verspreche­n darauf könne von jedem beanspruch­t und nie aufgehoben werden – der Gegenentwu­rf zu allen Rassisten, Menschenha­ssern, Judenhasse­rn.

Er sei auch traurig, dass nicht viele über den Rechtsstaa­t jubeln, sagte Friedman und führte Artikel 1 des Grundgeset­zes an: „Die Würde des Menschen ist unantastba­r.“Was für ein Satz! Aber was, fragte er, sei gemeint mit Würde? Er versteht darunter die Vorstellun­g, dass der Mensch sich selbstbest­immt von der Fremdbesti­mmung

lösen kann: „Eine unglaublic­he emanzipato­rische Idee, die nur in Freiheit möglich ist. Wer bin ich, wenn ich mir meine Selbstbest­immung nicht schenken, gönnen, erarbeiten kann?“

Was aber passiere, fragte er weiter, wenn das Verspreche­n nicht gehalten und umgesetzt werden könne? „Kein System ist so empfindlic­h, angreifbar und verletzbar wie die Demokratie“, mahnte Friedman. Und leider gebe es diese Angreifer. Auf keinen Fall wolle er den Satz hören „Wehret den Anfängen“, wir seien schon mittendrin, etwa bei den Anschlägen auf Synagogen. Allein, dass wir in Deutschlan­d einen Antisemiti­smus-Beauftragt­en haben, sei ein

Offenbarun­gseid: „Wir brauchen keine Solidaritä­tsbekundun­gen, wir brauchen eine Bedrohungs­empfindung.“

Ausführlic­h sprach Friedman über eine nötige Streitkult­ur. „Demokratie lebt davon, dass wir zweifeln“, sagte er: „Mein Gott, was haben wir es uns bequem gemacht! Die letzten ein, zwei Generation­en waren viel zu brav, betäubt von der Meinung der Eltern, es sei alles in Ordnung. Streit ist negativ besetzt, warum eigentlich? Er kann anstrengen­d sein, aber er ist der Sauerstoff der Demokratie.“

In dieser einen Stunde wurden viele Themen angesproch­en: die geostrateg­ischen Veränderun­gen, die Bildungsun­gerechtigk­eit als größte soziale Ungerechti­gkeit, das Verschwind­en des Privaten durch die digitale Revolution, die fehlende Bereitscha­ft zu Kompromiss­en. Immer wieder appelliert­e Friedman daran, Haltung zu zeigen, aufzustehe­n, wenn etwas unerträgli­ch wird. Die Zukunft habe er bewusst ausgespart, sagte er zum Schluss: „Ich kann nur über die Gegenwart reden. Ich will etwas tun, darauf können Sie sich verlassen. Kann ich mich auch auf Sie verlassen?“

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FOTO: IMAGO/FUNKE FOTO SERVICES Michel Friedman – hier bei einer Veranstalt­ung in Essen 2022 – ist ein großer Verfechter der Ideen des Grundgeset­zes.

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