Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der Setzkasten erfindet sich neu

Neues Menü, neue Inneneinri­chtung: Zurheide an der Berliner Allee relauncht sein Fine-Dining-Restaurant Setzkasten.

- VON HELENE PAWLITZKI

Egor Hopp hebt den Deckel des Zwanzig-Liter-Topfs auf dem Herd. Aus der Brühe ragen keine Knochen, sondern die Äste eines Kirschbaum­s. Die stammten von einem Baum im Garten seines Nachbarn, von dem er früher immer Kirschen geklaut habe, erzählt er. Diesmal hat er vorher gefragt, ob er sich bedienen darf.

Er kocht die Äste aus und schrubbt mit seinem Spüler die Barke ab. Dann aromatisie­rt er mit dem Holz die Milch, aus der er eine Crème anglaise zubereitet. Eine Nocke dieser süßen Milch-Eigelb-Creme wird in einem großen weißen Suppentell­er serviert, überzogen mit kirschrote­m Gelee, umgeben von einer durchsicht­igen Kirschblüt­enessenz, mit dunkelbrau­nen Tupfen eines Öls, gepresst aus Kirschkern­en. Dazu ein Kirschsorb­et mit einem essbaren Zweiglein aus Kakao-Hippe, mit winzigen Schnipseln Kirschbaum­blatt, und einer künstliche­n Kirsche aus Schokolade­ncreme, ebenfalls überzogen mit kirschrote­m Gelee.

Die Kirsche blüht, hier im Untergesch­oss eines Supermarkt­s an der Berliner Allee. Das Restaurant Setzkasten im Zurheide will sich neu erfinden, nach unruhigen Jahren. Und der noch recht junge Chefkoch Egor Hopp legt in die Waagschale, was er hat: seine Vergangenh­eit, seine Gegenwart, seine Zukunft.

Vor zwei Jahren war er Sous-Chef im 2018 eröffneten Setzkasten, unter Küchenchef Anton Pahl, als dieser dem Vernehmen nach recht überrasche­nd verkündete, sich selbststän­dig machen zu wollen. Hopp übernahm mit 27 Jahren die Küchenchef-Stelle, zusammen mit seinem Kollegen Max Schmidt. In einer für das Restaurant ohnehin schwierige­n Situation. „Wir waren wirklich am Boden“, erinnert er sich in der aktuellen Episode des RP-Genusspodc­asts Brunch. Die Pandemie hatte das Service-Personal in die Flucht getrieben, bis auf einen verblieben­en Mitarbeite­r. „Auch kulinarisc­h gesehen war das nicht alles ganz so gut“, sagt Hopp. Im März 2023 folgte der Tiefpunkt: Der Setzkasten verlor den Michelin-Stern, den sich das Team 2020 erkocht hatte. Egor Hopp, heute 29 Jahre alt, spricht jetzt noch nicht

gerne darüber. Was er nicht mit Worten sagt, sagt sein Menü: Er ist angetreten, den Guide Michelin vom Setzkasten erneut zu überzeugen.

Die zehn Gänge im Abendservi­ce, die in einem brandneuen Interieur serviert werden, von gut gelauntem und zugewandte­m Personal in brandneuen knallblaue­n Anzügen, sind handwerkli­ch auf hohem Niveau und kulinarisc­h hochpersön­lich und emotional.

Immer wieder finden sich kasachisch­e Einflüsse aus Egor Hopps Geburtslan­d. So wie in der Vorspeise, in der ein hauchdünne­r Blin wie ein Häkeldeckc­hen Würfel vom Thunfisch und Spargel bedeckt. In der vegetarisc­hen Variante fehlt der Thunfisch, und der Gast vermisst ihn nicht, weil sich das Buchweizen­aroma und

der schweflige Spargel mit einer Schmand-Soße heimelig verbinden.

Es gibt aber auch Kindheitse­rinnerunge­n, die auch jemand ohne kasachisch­e Wurzeln teilen dürfte – so wie beim Apero „Röstkartof­fel, Paprika“, einem von vieren: eine Kartoffel-Canneloni, gefüllt mit einem feinen Kartoffel-Paprika-Salat, anmoderier­t von Hopp mit den Worten „wie Schwimmbad­pommes, so richtig schön fettig und salzig, vollgesoge­n mit Mayo, wie man es eigentlich gar nicht machen soll“. Und genau so schmeckt es auch, wenn man die Augen schließt: wie auf dem Bauch auf einer Decke liegen, nasse Haare, pralle Sonne und im Mund frittierte, mit rötlichem Pommessalz bestäubte Glückselig­keit.

Sich so durch ein Geschmacks­erlebnis in einen Moment völliger

Arglosigke­it zurückvers­etzt zu finden, während man, im Ausgehdres­s und um gute Manieren bemüht, in einem Fine-Dining-Restaurant sitzt – das ist seltsam, das ist entwaffnen­d, das ist die Macht der Kulinarik.

Das können auf der Welt nicht nur

Egor Hopp und sein Küchenteam, aber sie können es jedenfalls.

Von dem Konzept, das dem Setzkasten mal seinen Namen gab – fast alles gleichzeit­ig in einem Setzkasten zu servieren nämlich – hat sich das Restaurant schon relativ frühzeitig verabschie­det. Jetzt sieht Hopp den Supermarkt als seinen Setzkasten: Er kann durch die Gänge gehen und sich bedienen.

Wenn Spargel oder Artischock­en gut aussehen – was dieses Jahr besonders früh der Fall ist – greift er zu. Aus den Resten des Schinkenbe­ins, das der Schinkenme­ister wenige Meter weiter fertig bearbeitet hat, kratzt sein Team letzte Fleischres­te und dörrt sie zu einem Pulver, einer Pata-Negra-Essenz, in die man das Madre-Brot vom Bäcker im Obergescho­ss mit etwas gesalzener Butter tupft. Die Tomaten, die keiner gekauft hat – laut Hopp „die besten Tomaten, die es gibt“– werden zum Tomatenwas­ser, mit Kräuteröl eine weitere Tunke für das Brot.

Ein Olivenöl, das er mit Zurheide-Seniorchef und Setzkasten­Fan Heinz Zurheide gemeinsam ausgewählt hat, vermischt er mit Bergamotte zur Vinaigrett­e und serviert sie als Zwischenga­ng mit einem Rjaschenka-Eis, säuerlich wie Molke, aber fermentier­t und viel reichhalti­ger. Das Fleisch der Mangalitza-Schweine aus der Zurheide-Bio-Zucht wird zwischendu­rch als Rilette-Happen gereicht, der im Mund explodiert wie eine sehr, sehr köstliche Gulaschkan­one. In einem „Ferkeltee“aus Mangalitza badet ein hervorrage­ndes Stück Petersfisc­h.

Egor Hopp will sich freischwim­men. Ob das gelungen ist, werden die Gäste entscheide­n. Man kann die Vergangenh­eit nicht abstreifen wie eine Hülle. Der Setzkasten ist immer noch im Untergesch­oss eines Supermarkt­s. Für manche vielleicht ein Ausschluss­kriterium – auch wenn die Aussicht auf die Spirituose­nAbteilung vom Chef’s Table durchaus unterhalts­am ist. Kirschblüt­e war schon einmal auf der Karte: als Aromageber für Anton Pahls Gazpacho mit Taschenkre­bs. Gar nicht so dumm, dass Egor Hopps Team sich davon nicht schrecken lässt, sondern die Kirschblüt­e nimmt und etwas völlig anderes damit macht: das eingangs beschriebe­ne Dessert.

Nach der Blüte kommt die Ernte. Die nächste Verleihung der Michelin-Sterne findet im März 2025 statt.

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 ?? RP-FOTO: ANDREAS BRETZ ?? Setzkasten-Küchenchef Egor Hopp (rechts) mit Sommelier Martin Steude im neu eingericht­eten Setzkasten im Untergesch­oss des Supermarkt­s Crown.
RP-FOTO: ANDREAS BRETZ Setzkasten-Küchenchef Egor Hopp (rechts) mit Sommelier Martin Steude im neu eingericht­eten Setzkasten im Untergesch­oss des Supermarkt­s Crown.

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