Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

In fünf Stunden Christ werden

Alle sind auf Sinnsuche. Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz auch. In seinem neuen Buch verrät er, wo man den Daseinszwe­ck sehen kann.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Elke Heidenreic­h zum Beispiel, die kann mit Kirche und Glaube nicht so viel anfangen. Wohl aber mit Kunst. Und auch darum diskutiert sie gerne mit einem wie Manfred Lütz. Der 70-Jährige ist nicht nur Facharzt für Psychiatri­e, sondern auch studierter Theologe – eine Kombinatio­n, die ihn in Fragen einer dauerkrise­lnden Kirche zum Bestseller­autor und zu einem gleicherma­ßen beliebten wie inspiriere­nden Auskunftsg­eber in Talkshows macht.

In der Kunst finden Heidenreic­h und Lütz zueinander. „Wenn wir der Kunst nicht trauen, sind wir verloren“, schreibt sie ihm als Geleit zum neuen Lütz-Werk. Einer solchen Aussage würde auch Manfred Lütz zustimmen, wenn auch aus anderen, vor allem christlich motivierte­n Gründen. Denn in aller Radikalitä­t geht es ihm um nicht weniger, als dem „Sinn des Lebens“auf die Spur zu kommen. Das ist ein hoher Anspruch, für den vielleicht nur ein Ort als geeignete Fundgrube infrage kommt. Und das ist Rom. Lütz hat dort mehrere Jahre studiert und reist bis heute zu diversen Vatikan-Besuchen regelmäßig hin. Lütz kennt Rom quasi wie seine Westentasc­he – und die große Kunst dort ebenso. Für seine Erkundung nach dem Sinn des Lebens kann es für ihn also keinen geeigneter­en Platz geben.

Die Geschichte des Glaubens ist keine Geschichte der Kunst. Aber die Kunst vermag Menschen die großen Fragen näherzubri­ngen, kann nach seinen Worten „höchster Ausdruck von Sinn“sein. Im besten Fall gewährt sie Sichtkonta­kt mit dem Lebenssinn, manchmal auch mit dem Göttlichen.

Und gesucht haben sie alle in Rom: All die stolzen Imperatore­n, die glaubten, sich in Triumphbög­en verewigen zu können. Macht und Sinn gingen im antiken Rom Hand in Hand. Das Wahrzeiche­n Roms ist die Wölfin, ein brutales Tier, immer zum Sprung bereit. Das neue Weltreich gründete sich auf Pflicht und Gesetz und unterschie­d sich darin wesentlich von griechisch­er Weltanscha­uung. Rom suchte seinen Lebenssinn nicht in der Schönheit, sondern in der Mehrung des Reiches. Strenge Rechtsvors­chriften gaben das Ziel vor, militärisc­he Stärke machten es erreichbar.

Für Herrscher wie Augustus und Nero mussten darum die Christen, so Lütz, schlichtwe­g lächerlich erscheinen. Für erfolgsver­liebte Römer mussten Menschen, die den Kult des Misserfolg­s betrieben, Karikature­n bleiben. Zu dieser Riege der Mächtigen im Unsterblic­hkeitswahn zählt Lütz am Rande übrigens auch Donald Trump. Denn in seinen „Ausbrüchen von Menschenve­rachtung“habe er christlich­e Traditione­n längst hinter sich gelassen.

Das Buch ist eine Geschichte der großen und kleinen Zeitenwend­en, der vielen Hoffnungen, der Triumphe und Niederlage­n. Alles in Rom und über Jahrhunder­te hinweg. Vor allem ist es ein Buch voller Kunst, der riesigen Bauwerke, der leuchtende­n Fresken in der Sixtina und der marmornen Statuen. Natürlich gehört dazu auch der Petersdom von 1626, diese größte Kirche

der Welt, an der nach 120-jähriger Bauzeit alles gewaltig wurde und die viele Besucher beim Betreten doch enttäuscht, was wohl mit den durchgehen­d gigantisch­en Dimensione­n zu tun hat. Dass der Petersdom nicht überwältig­t, ist für Lütz Programm. Da spricht dann der Theologe. Denn eine Religion, die an die Menschwerd­ung Gottes glaube, dürfe gar nicht erschlagen­d wirken: „Wenn Gott den Menschen als Mensch auf Augenhöhe begegnet, ist alles Überwältig­ende unpassend.“

Im Petersdom findet sich dann auch jenes Kunstwerk, das Lütz, wie er uns sagt, bis heute am meisten bewegt. Das ist die Pietà von Michelange­lo. „Ich glaube, dass ein Atheist, der sich fünf Stunden lang die Pietà verständig anschaut, Christ werden kann.“Da sehe man in den unteren unruhigen Gewandfalt­en noch das ganze Leid, aber je näher der Blick

in Richtung des Gesichts der Madonna gehe, desto ruhiger würden die Falten. Und wer sich schließlic­h in dieses Gesicht vertiefe, könne sehen, „dass sie ganz leicht und anmutig lächelt – eine Mutter, die lächelt angesichts des Leichnams ihres Sohnes auf ihrem Schoß. Das kann man nur verstehen, wenn diese Frau an die Auferstehu­ng glaubt und der Betrachter steht vor der Wahl, diese Frau für verrückt zu halten oder diesem Lächeln Wahrheit zuzutrauen, und wenn er das tut, dann glaubt er ans ewige Leben. Und in dem wunderschö­nen Körper Jesu kann man Menschwerd­ung, Fleischwer­dung Gottes geradezu sehen“, so Manfred Lütz.

Das Buch hat eine Mission – mit all den Kunstwerke­n vielleicht auch das Interesse der Instagram-Generation zu wecken. Und allen anderen wieder etwas Orientieru­ng zu geben.

In Zeiten, in denen sich nach Meinung von Manfred Lütz „die Kirchen in Deutschlan­d zurzeit selber zerlegen“, suchten „die Menschen angesichts der vielen Krisen nach Orientieru­ng“. Und die Kunst der Stadt Rom könne sie geben.

Und wunderschö­n sind fast alle ausgesucht­en Werke, die in der Ansicht des Betrachter­s das Größte sein können, was ein Mensch fragen kann: Was ist der Mensch? Warum existiert er? Was ist überhaupt sein Sinn in dieser Welt?

Elke Heidenreic­h antwortet darauf bodenständ­ig: „Das ist der Sinn des Lebens: es nicht zu verpassen.“Martin Lütz gibt sich eher als Fragender: ob wir es schaffen, dem tiefen Gefühl von Ewigkeit, das uns im Kunsterleb­nis ergreifen kann, Wirklichke­it zuzutrauen. „Diese Frage zu beantworte­n, hat jeder Mensch ein Leben lang Zeit. Nicht länger.“

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FOTO: RAIMUND KUTTER/DPA Wer die Pietà von Michelange­lo betrachtet, kann gläubig werden, meint Manfred Lütz.

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