Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Ein Tod durch 1000 Schnitte
Mit dem Ende von Tauwetter und Schlammperiode rechnen viele mit einer russischen Großoffensive in der Ukraine. Doch die Invasoren haben womöglich andere Pläne, um den geschwächten Gegner zu überwältigen.
(ap) In der Ukraine erhöhen die russischen Invasionstruppen den Druck auf die erschöpften Verteidiger. Damit bereiten sie weitere Eroberungen im Frühjahr und Sommer vor, wenn das vom Winter schlammige Gelände trocken ist, sodass Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und anderes schweres Gerät besser in Schlüsselpositionen gebracht werden können. Während im dritten Kriegsjahr ein wichtiges US-Hilfspaket für Kiew monatelang im Kongress festhing und erst vergangene Woche Repräsentantenhaus und Senat passierte, setzt Russland zunehmend satellitengesteuerte Gleitbomben ein, die von Flugzeugen aus sicherer Entfernung abgeworfen werden können, um ukrainische Einheiten zu vernichten, denen es an Soldaten und Munition mangelt.
Doch trotz der russischen Überlegenheit bei Feuerkraft und Mannschaftsstärke wäre eine massive Bodenoffensive riskant. Russische Militärblogger und andere Experten halten sie auch für unnötig. Russland könne sich auf kleinere Angriffe an den Fronten beschränken, um das ukrainische Militär weiter zu schwächen, sagen sie. Die ukrainische Offensive im vergangenen Jahr scheiterte, weil Kiews Einheiten in riesigen Minenfeldern stecken blieben, wo sie von Artillerie und Drohnen vernichtet wurden. Russland könne auf 1000 örtlich begrenzte Offensiven setzen, beschreibt der Militärexperte Michael Kofman von der Carnegie-Stiftung die mögliche russische Taktik. Auf diese Weise könnten die Soldaten über die Front hinweg schließlich mehr und mehr in offenes Gelände vordringen. Kofman spricht von „einem Tod durch 1000 Schnitte“.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat zwar im November angeordnet, hinter der mehr als 1000 Kilometer langen Frontlinie Gräben, Befestigungen und Bunker anzulegen. Beobachtern zufolge sind die Bauarbeiten aber nur langsam vorangekommen, sodass einige Gebiete nicht geschützt sind. Kofman sagt, die Ukraine sei „ziemlich im Rückstand damit, sich effektiv an der gesamten Front zu verschanzen“. Außerdem fehle es an guten rückwärtigen Verteidigungslinien in der zweiten Reihe.
Nach der Eroberung des ukrainischen Bollwerks Awdijiwka konzentrieren die Russen ihre Vorstöße auf die Stadt Tschassiw Jar. Von dort aus könnten sie in Richtung Slowjansk und Kramatorsk angreifen, wichtige Städte in dem von Kiew kontrollierten Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Russland hat Donezk und drei weitere Regionen im Jahr 2022 völkerrechtswidrig annektiert. Für den Kreml ist die vollständige Kontrolle von Donezk besonders wichtig. Der ukrainische Militärexperte Oleh Schdanow sagt, die Ukraine verfüge nicht über die Feuerkraft, um russische Angriffe abzuwehren. „Sie haben versichert, sie hätten eine Verteidigungslinie zehn Kilometer hinter Awdijiwka, wo sich unsere Truppen eingraben könnten“, sagt er: „Aber es gibt keine.“Am Wochenende meldete Russland die Einnahme eines Ortes in der Gegend.
Präsident Wladimir Putin hat angekündigt, eine sogenannte Sicherheitszone einzurichten, um die russischen Grenzregionen vor ukrainischem Beschuss und Angriffen zu schützen. Einzelheiten nannte er nicht. Russische Militärblogger und Beobachter sagen, Moskau könne neben den Vorstößen in der Region Donezk auch versuchen, die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw zu erobern. Ein mögliches Anzeichen dafür könnten verstärkte russische Angriffe auf Kraftwerke in der Gegend um die Stadt mit 1,1 Millionen Einwohnern sein.
Schdanow sagt, die ukrainische Luftabwehr sei nicht stark genug, um Charkiw und andere Städte zu schützen. Die ständigen russischen
Angriffe seien Teil einer Erstickungsstrategie, mit der die Infrastruktur zerstört werden solle, um die Einwohner zur Flucht zu zwingen.
Der russische Ex-General Andrej Gurulew räumt ein, die Einnahme von Charkiw sei eine große Herausforderung. Russische Truppen würden wohl versuchen, die Stadt zu umzingeln. „Die Stadt kann eingekesselt und blockiert werden“, sagte Gurulew, der dem Verteidigungsausschuss des Parlaments angehört. Die Einnahme von Charkiw könne den Weg für einen Vorstoß tief in die Ukraine ebnen. Das erfordere aber mehr russische Truppen.
Eine von Putin im Herbst 2022 angeordnete Teilmobilisierung von Reservisten hat sich als äußerst unpopulär erwiesen. Hunderttausende gingen ins Ausland, um nicht eingezogen zu werden. Inzwischen hat der Kreml einen anderen Weg eingeschlagen. Er versprach relativ hohe Löhne und andere Vorteile, um seine Streitkräfte mit freiwilligen Soldaten aufzustocken. Nach Angaben von Verteidigungsminister Sergej Schoigu hat das Militär vergangenes Jahr 540.000 Freiwillige rekrutiert.