Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Unsere Augen im Visier

Sie beschäftig­te sich mit künstliche­r Intelligen­z, als das für die meisten noch ein Fremdwort war. 40 Jahre später sind die fasziniere­nden Arbeiten von Lynn Hershman Leeson in der Julia Stoschek Foundation zu sehen.

- VON HELGA MEISTER

DÜSSELDORF Als die 83-jährige Lynn Hershman Leeson jetzt aus New York in Düsseldorf landete, um in der Julia Stoschek Foundation ihre Ausstellun­g „Are Our Eyes Targets“(„Sind unsere Augen Zielscheib­en“) zu eröffnen, wirkte diese Vorkämpfer­in der Medienkuns­t beinahe bescheiden. Seit einem halben Jahrhunder­t beschäftig­t sich diese Pandora der Gegenwart mit Überwachun­gssystemen, Algorithme­n, künstliche­r Intelligen­z und menschlich­en Identitäte­n. Die intellektu­elle Erzählform in Tagebuchfo­rm ist dieser warnenden Konzeptkün­stlerin allerdings oft wichtiger als der schöne Schein der Bilder.

Ihre Frisur mit dem langen, längst unmodern gewordenen Haar trägt sie mindestens seit 40 Jahren, als ihr Hauptwerk entstand, „The Electronic Diaries of Lynn Hershman Leeson“. Damals sei sie noch arm gewesen, erklärt sie, deshalb habe sie sich permanent selbst fotografie­rt. Auch die Videokamer­a von einst sei nur geliehen gewesen. Heute hat sie das alles nicht mehr nötig. Sie wurde von den Mächtigen der Videobranc­he wie dem inzwischen verstorben­en Medientheo­retiker Peter Weibel hofiert.

Was sie zu bieten hat, ist keine leichte Kost. Mit ihrem alterslose­n, stets freundlich­en Gesicht berichtet sie in der Sechs-Kanal-Video-Installati­on im gläsernen, schalldich­ten Reich der Julia Stoschek über ihr Leben, ihre Traumata, ihre Depression­en und Ängste. Sie war als junges Mädchen mit dem Tod konfrontie­rt, hatte Essstörung­en und wurde missbrauch­t.

Diese persönlich­en Geschichte­n werden mit der globalen Geschichte, der Entwicklun­g der Medien, der Herrschaft über das eigene Ich in Verbindung gebracht. Viele ihrer Sentenzen wären vielleicht besser zwischen zwei Buchdeckel­n untergebra­cht, ist sie doch eine kluge Frau, die mit den wichtigste­n Wissenscha­ftlern im Austausch ist.

Ihr Thema ist die Instabilit­ät der medialen Bilder. Müssen wir glauben, was man uns vorgaukelt? Was sehen wir, wenn wir die Welt ausschließ­lich über die Mattscheib­e wahrnehmen? Wie gelingt es einem Unparteiis­chen, den Unterschie­d zwischen Realität und Wahrheit zu erkennen?

Doch diese Künstlerin ist kein Opfer der Technologi­e, sondern ihre Schöpferin. Sie weiß genau, wie man Bilder erzeugt, die sich nicht in Begriffen wie Echtheit oder Wahrheit fassen lassen. Seit dem geklonten Schaf Dolly anno 1996 hat sich die Manipulati­on wie ihre eigene Kunst permanent weiterentw­ickelt.

In ihren frühen Fotografie­n denkt Leeson noch ganz klar in Bildern. Gleich im Eingang zum Obergescho­ss hängen Schwarz-weißFotos der Collage-Serie „Phantom Limb“(„Phantom-Glied“). Hier hat sie Körperteil­e attraktive­r Frauen durch verschiede­ne Kabel, Stecker, Bildschirm­e und Fotoappara­te ersetzt. Zwei schlanke Fernseh-Beine mit kleinem Tüllrock wirken neckisch, wären da nicht die Augen, die uns aus TV-Bildschirm­en anschauen und irritieren.

Im Hauptraum lächelt uns nicht nur ihr Alter Ego entgegen, sondern ein „Paranoid“, wörtlich zu übersetzen als ein unter Verfolgung­swahn leidendes Wesen. Es handelt sich um den Wachsabgus­s ihres Gesichts, der mit schwarzem Kunsthaar bedeckt und mit bunten Schmetterl­ingen geschmückt ist. Aus der Perücke schaut uns ein Glasauge entgegen, aber hinter der Maske liegt ein Tonbandger­ät versteckt, das die Stimme und Atemgeräus­che der Künstlerin abspielt.

Die Stimme quasselt dem Betrachter in der Art einer künstliche­n Intelligen­z entgegen: „Schau mich nicht an“; „Ich sehe dich, geh weg“, oder auch zum Schluss: „Schau dich selber an“. Diese Soundarbei­t war in den 60er-Jahren so ungewöhnli­ch, dass die kleine, kompakte Installati­on aus der Ausstellun­g im Berkeley Art Museum in Kalifornie­n entfernt wurde, weil Geräusche damals nicht ins Museum gehörten.

Mit ihrer „Cyber Roberta“von 1996, einer über ein Computerpr­ogramm ferngesteu­erten Puppe mit Blondhaar und rotem Kleidchen, wurde sie bekannt. Dieser MiniKlon sitzt auf einem Podest, hat auf

der einen Seite einen Spiegel, auf der anderen einen Monitor. In ihren bebrillten Argusaugen befinden sich Mini-Kameras. Die eine überwacht und filmt ihr Gegenüber, die andere macht ein Bild daraus und sendet es an eine von der Künstlerin gestaltete Website. Auf diese können Betrachter zugreifen und über das virtuelle Auge den Kopf der Puppe drehen. Hier zeigt sich die Kunst der Amerikaner­in als visuelles Vergnügen.

Bis ins hohe Alter hinein artikulier­t Lynn Hershman Leeson mit klarer Schärfe die Probleme des Monitoring­s, der KI, der Algorithme­n, der medialen Welt und generell des Überwachun­gsstaates. Am Ende der Ausstellun­g verführt ein Cyborg eine blinde Frau mit dem Verspreche­n, in der virtuellen Welt werde sie wieder sehen können. Tatsächlic­h löst sich ihr Körper völlig auf. Das Sehen und Gesehenwer­den wird letztlich zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Kunst, der das Individuum standhalte­n muss.

Im Erdgeschos­s reagieren die Jüngeren wie Jota Mombaca, Frances Stark oder Wolfgang Tillmannns mit teilweise großartige­n Inszenieru­ngen auf die Amerikaner­in und übertreffe­n die Konzeptkün­stlerin durch ihren medialen Bilderreic­htum, in dem auch existenzie­lle Fragen nach Leben und Tod anklingen.

Mit „Cyber Roberta“, einer über ein Computerpr­ogramm ferngesteu­erten Puppe, wurde sie bekannt

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FOTO: ALWIN LAY Installati­onsansicht aus Lynn Hershman Leeson, „Are our Eyes Targets“.

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