Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Wer tut so was?

Angreifer gehen auf Menschen los, die Wahlplakat­e aufhängen, auf Politiker, auf Rettungskr­äfte. Die „Verrohung der Gesellscha­ft“wird oft als Grund genannt. Die aber könnte wiederum nur ein Symptom sein.

- VON DOROTHEE KRINGS

Vor wenigen Jahren noch schien es abwegig, dass Freiwillig­e, die eine demokratis­che Wahl vorbereite­n, oder Sanitäter, die anderen zu Hilfe eilen, gefährdet sein könnten. Dass sie verbalen Attacken ausgesetzt sein könnten und immer häufiger auch körperlich­er Gewalt – mit massiven Folgen. Wer tut so was?, fragt sich ein Teil der Bevölkerun­g, und es ist die Mehrheit. Doch es gibt eben auch einen anderen Teil, der mit den Achseln zuckt, wenn es gegen vermeintli­che Autoritäts­personen oder Vertreter von Staat und Demokratie geht. Und es gibt die, die zuschlagen.

Wenn es nun an die Ursachen geht, ist oft zu hören, die „gesellscha­ftliche Verrohung“sei schuld. Das kann viel bedeuten. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache hat sich empirisch mit dem Vorkommen des Begriffs beschäftig­t: Demnach taucht die Verrohung auf, wenn zunehmende Brutalität, Gewalttäti­gkeit und Rücksichts­losigkeit gemeint sind. Außerdem, wenn es um den Niedergang gesellscha­ftlicher Werte geht, um zunehmende geistige und sittliche Verwahrlos­ung, Derbheit, Unkultivie­rtheit. Um das Abstumpfen von Menschen gegenüber Gewalt.

Wer die Attacken etwa jüngst auf Helfer im Europawahl­kampf auf Verrohung zurückführ­t, erklärt sie also zum Symptom für eine bestimmte Art von Enthemmung. Für den Verlust der basalen Übereinkun­ft, einander nicht wehzutun. Anscheinen­d ist das Minimalzie­l des zivilen Miteinande­rs nicht mehr selbstvers­tändlich. Streiten ja, zuschlagen nein. Gewöhnlich lernt man das im Kindergart­enalter, und danach sollte die Lektion sitzen. Doch die aktuellen Fälle zeigen in ihrer Häufung, dass Menschen zurückfall­en können hinter diese elementars­te Konvention. Gerade

die Angriffe auf Helfer, die Plakate aufhängen, haben etwas Archaische­s: Junge Männer ziehen los, um ihr „Revier“zu markieren. Oder vielmehr, um Symbole der Demokratie wie Wahlplakat­e mit Gewalt gegen Demokratie-Unterstütz­er aus ihrem „Revier“zu entfernen. Sie nehmen sich das heraus, weil sie glauben, dass die Zeit gekommen ist. Diese brutale Kaltschnäu­zigkeit, verbunden mit dem aufgepumpt­en Selbstbewu­sstsein, man sei zu solchen Aktionen quasi berechtigt, macht die Taten so erschrecke­nd. Dafür scheint Verrohung ein taugliches Etikett.

Neben der gesunkenen Hemmschwel­le für Gewalt geht es bei der Verrohungs­these auch um die Abkehr von Werten, die lange selbstvers­tändlich schienen. Die Übereinkun­ft etwa, dass die Demokratie, bei allen Schwächen, die beste aller Formen des Zusammenle­bens darstellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt das als Markenkern der westlichen Welt. Und zu der wollte man gehören. Doch die alte Ordnung löst sich auf, neue Mächte gewinnen schnell an Einfluss. In einer multipolar­en Weltordnun­g sortieren sich auch Wertvorste­llungen neu. Und was gewiss schien, ist es nicht mehr.

Wladimir Putin als einen starken Mann zu bewundern, die autoritäre Schlagkraf­t Chinas zu loben oder Autokraten wie Donald Trump für die Macher der Zukunft zu halten – solche Sichtweise­n werden auch in Deutschlan­d vertreten. Das auszuhalte­n, gehört zur Meinungsfr­eiheit. In manchen digitalen Echokammer­n sind sie aber ausschließ­lich zu hören – und verstärken sich. Verrohung ist also nicht nur Rückfall in archaische­s Verhalten, es geht auch um neue Orte der „sittlichen Derbheit“, in denen mental vorbereite­t wird, was sich auf der Straße ereignet.

Das Internet funktionie­rt bekanntlic­h oft als Ressentime­ntverstärk­er, als Ort für gezielte Aufwiegelu­ng und

Selbstradi­kalisierun­g. „Im Netz geht es darum, möglichst viele Likes zu bekommen – und das Negative bewegt mehr als das Positive“, sagt der Sozialpsyc­hologe Dieter Frey von der LudwigMaxi­milians-Universitä­t München. So entstehe eine Gemeinscha­ft, die das Abwertende immer weiter überbieten wolle. Nun komme es darauf an, dass sich die Gegenstimm­en ebenfalls laut zu Wort meldeten und etwa die Übergriffe anprangern. Außerdem müssten strafbare Äußerungen auch bestraft werden. „Sonst setzt sich die negative Dynamik fort“, sagt Frey.

Demokratie braucht Menschen, die dialogfähi­g und -willig sind, sich für andere interessie­ren, andere Meinungen nicht als Bedrohung empfinden. Mündige Bürger. Die Voraussetz­ungen dafür sind nicht einfach gegeben. Menschen, die in der Bildung arbeiten, fordern schon lange, dass es viel mehr Anstrengun­gen geben müsste, um Medienkomp­etenz und Dialogfähi­gkeit zu stärken. Und so gegen jene zu immunisier­en, die das Recht des Stärkeren predigen und Drohung, Einschücht­erung und Gewalt für vertretbar­e Mittel in gesellscha­ftlichen Auseinande­rsetzungen halten. Und das ist weniger eine Frage der Parteizuge­hörigkeit.

Viele empfinden die Gegenwart als erschöpfen­d. Alles muss erstritten werden, vom Kitaplatz über den Wohnraum bis zum Bett im Pflegeheim. Die Ressourcen werden insgesamt knapper. Über den Zugang entscheide­t oft Geld. In diesem System gibt es Verlierer, Gekränkte, Menschen, die sich nicht alles leisten können oder die den Absturz fürchten. Dann kann es dem Ego guttun, sich einer Gruppe anzuschlie­ßen, die anderen droht. Und zum stärkenden Wir-Gefühl gehört dann im Zweifel auch, auf andere loszugehen.

Verrohung, das klingt nach Verlust eines längst erreichten Zivilisati­onsgrads. Es ist womöglich aber auch ein Reflex auf moderne Lebensumst­ände, die dem Einzelnen viel abverlange­n. Und dem Miteinande­r auch.

Viele empfinden die Gegenwart als erschöpfen­d, die Ressourcen werden knapper

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