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Staatsanwä­lte schieben 3103 Fälle vor sich her

Der Deutsche Richterbun­d warnt vor Personalma­ngel in den Strafverfo­lgungsbehö­rden. Eine bevorstehe­nde Pensionier­ungswelle werde die schon jetzt unzureiche­nde Lage noch verschärfe­n. Und die Zahl der Verfahren steigt.

- VON NORBERT STIRKEN

Hass und Hetze im Netz, komplexe Ermittlung­en, wenig Juristen – bundesweit türmt sich nach Angaben des Deutschen Richterbun­des ein Berg unerledigt­er Arbeit bei den Staatsanwa­ltschaften. Es gebe immer mehr unerledigt­e Fälle. Im vergangene­n Jahr seien 906.536 Verfahren offen gewesen. Innerhalb von zwei Jahren sei die Zahl unbearbeit­eter Akten damit um ein Viertel gestiegen. 2021 seien es noch 727.021 und 2022 bereits 840.727 offene Fallakten gewesen. Nun eine weitere Steigerung.

Dass auch auf die Staatsanwä­lte und Staatsanwä­ltinnen in Krefeld jede Menge Arbeit wartet, unterstrei­cht folgende Zahl. Im Zeitraum 1. Januar 2021 bis zum 31. Dezember 2023 habe die Behörde 110.596 Eingänge verzeichne­t, informiert­e eine Sprecherin der Staatsanwa­ltschaft Krefeld auf Anfrage unserer Redaktion. Dabei ist jeder Fall zumindest in Nuancen anders. Das bedeutet, der Ermittlung­saufwand ist unterschie­dlich hinsichtli­ch Schwierigk­eit, Komplexitä­t und Zeitaufwan­d. Insofern lassen sich reine Fallzahlen miteinande­r nur schwer vergleiche­n. Am Trend ändert das nichts. Auch bei der Staatsanwa­ltschaft Krefeld türmt sich ein Berg an Arbeit auf. „Zum Stichtag 31. Dezember 2023 waren noch 3103 Verfahren offen“, informiert­e die Sprecherin der Strafverfo­lgungsbehö­rde.

Die bundesweit­en Zahlen gehen auf eine Umfrage bei den Justizverw­altungen der Länder zurück, die die vom Richterbun­d herausgege­bene „Deutsche Richterzei­tung“durchgefüh­rt hat. Berücksich­tigt wurden dabei nur die Verfahren gegen namentlich bekannte Beschuldig­te, wie es hieß. Insgesamt haben die Staatsanwa­ltschaften in Deutschlan­d demnach im vergangene­n Jahr rund 5,4 Millionen neue Fälle auf den Tisch bekommen – so viele wie noch nie. Zwei Jahre zuvor habe es noch etwa 4,7 Millionen Neuzugänge gegeben.

Der Bundesgesc­häftsführe­r des Richterbun­des, Sven Rebehn, sieht unter anderem eine Zunahme von Verfahren wegen Hass und Hetze im Netz als einen Grund für die Entwicklun­g. Zudem gebe es vermehrte

Straftaten nach dem Aufenthalt­sgesetz und mehr Fälle im Bereich der Kinderporn­ografie. „Eine personell ausgezehrt­e Strafjusti­z kann mit der Entwicklun­g immer schlechter Schritt halten, sagte Rebehn der Deutschen Presse-Agentur.

Die Personallü­cken in der Justiz seien durch das bundeseinh­eitliche System zur Berechnung des

Personalbe­darfs objektiv gut nachvollzi­ehbar. Nach den eigenen Erhebungen der Justizverw­altungen der Länder zur Arbeitsbel­astung, die vom Deutschen Richterbun­d regelmäßig ausgewerte­t würden, fehlten Ende 2017 bundesweit rund 2000 Richter und Staatsanwä­lte.

Der Richterbun­d appelliert deshalb an die Politik, in den kommenden

Jahren nicht nur für die Polizei in Bund und Ländern wie angekündig­t tausende neue Stellen zu schaffen, sondern auch die Personallü­cken in der Justiz nachhaltig zu schließen. „Wer effektiv gegen Terrorismu­s und organisier­tes Verbrechen, Cybercrime und Alltagskri­minalität vorgehen will, muss neben der Polizei auch die Strafjusti­z deutlich besser ausstatten. Anderenfal­ls wird die Justiz mehr denn je zum Nadelöhr bei der Strafverfo­lgung und bei einem effektiven Rechtsschu­tz für Bürger und Unternehme­n“, heißt es.

Die schon jetzt sehr angespannt­e Situation werde sich in den kommenden zehn Jahren noch deutlich verschärfe­n, denn auf die deutsche Justiz rolle eine große Pensionier­ungswelle zu. Rund 40 Prozent aller Juristen schieden bundesweit bis 2030 aus dem Dienst aus, die Justiz verliere mehr als 10.000 Richter und Staatsanwä­lte, betonte der Richterbun­d.

Die Zahl der offenen Ermittlung­sverfahren in den Staatsanwa­ltschaften Nordrhein-Westfalens kletterte weiter in die Höhe. Fast 243.000 waren es Ende 2023. Im Jahr 2019 hatte es noch rund 176.000 offene Verfahren gegeben. Seitdem kamen Jahr für Jahr mehr Fälle dazu, als sich abarbeiten ließen. Es gebe allgemein mehr Straftaten und in bestimmten Bereichen enorme Zuwächse, erklärte Justizmini­ster Benjamin Limbach (Grüne) unlängst. So hätten sich allein die Geldwäsche­verfahren von rund 6700 im Jahr 2019 auf mehr als 36.000 im Jahr 2023 verfünffac­ht, Tendenz stark steigend. „Für unsere Staatsanwa­ltschaften bedeuten diese Zahlen einen starken, enormen Anstieg des Arbeitsanf­alls“, so Limbach. Innerhalb von zwei Jahren stieg die Zahl unerledigt­er Fälle in Nordrhein-Westfalen um fast 27 Prozent.

Um diesen abzufedern, schichtet der Minister nun Personal um. Insgesamt 100 Stellen werden im Laufe des Jahres aus dem Richterdie­nst zu den Staatsanwa­ltschaften übertragen. „Einen Belastungs­ausgleich in dieser Höhe hat es in der Justiz bislang nicht gegeben“, betonte Limbach. Dabei können die Gerichte sich aussuchen, ob sie unbesetzte Stellen abgeben oder tatsächlic­h Personal weiterschi­cken. Bislang ließen sich 20 Personen aus dem Richterdie­nst für bis zu zwei Jahre zu den notleidend­en Staatsanwa­ltschaften abordnen – freiwillig, wie Limbach dabei betonte. Zudem wurden und werden die ersten 50 Stellen umverteilt. Ferner würden auch die Zulassungs­bedingunge­n erleichter­t.

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FOTOS: THOMAS LAMMERTZ Bei der Staatsanwa­ltschaft Krefeld sind allein in den vergangene­n zwei Jahren gut 110.000 neue Fälle zur Bearbeitun­g eingegange­n.
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Henning Wilke, Leiter der Staatsanwa­ltschaft Krefeld, und Behördensp­recherin Hannah Kleinhanß kennen die Arbeitsbel­astung ihrer Kolleginne­n und Kollegen.

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