Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Der Inbegriff der Gemütsruhe“
Der Autor und Schneckenfreund spricht über die unersättlichen Kriechtiere, ihre rabiate Bekämpfung durch den Menschen und die Faszination der Langsamkeit. Und er verweist darauf, dass der vermeintliche Schädling auch nützlich sein kann.
Herr Werner, mir haben Schnecken gerade die gesamten sorgsam gepäppelten Gemüsesetzlinge weggefressen. Was sollte ich über Schnecken wissen, ehe ich zum Gift greife? WERNER Ich bin selbst Gärtner und kenne Ihren Schmerz. Aber Sie sollten wissen, dass Schnecken liebenswerte Tiere sind, die für uns Menschen Vorbilder sein können. Gehäuseschnecken tragen eine perfekte archimedische Spirale auf ihrem Rücken, das begeistert nicht nur Kinder.
Was könnte man von Schnecken lernen – außer, anderen den Salat wegzufuttern?
WERNER Schnecken sind der Inbegriff der Gelassenheit und Gemütsruhe. Mit diesem Prinzip sind sie außergewöhnlich gut durch die Evolutionsgeschichte gekommen. Es gibt sie schon seit 600 Millionen Jahren. Im Vergleich zur Schnecke ist der Mensch nur ein evolutionärer Wimpernschlag. Von den Schnecken lernen heißt also überleben lernen.
Wie haben die Schnecken so viel Geschichte und Anpassungsdruck durchlaufen?
WERNER Schnecken sind merkwürdige Mischwesen. Man ist sich auf den ersten Blick ja gar nicht sicher: Ist das ein Mineral, ein Stein, eine Pflanze, ein Tier? Natürlich ist die Schnecke ein Schalenweichtier. Und sie hat zum Beispiel eine extrem taugliche Art der Fortbewegung entwickelt.
Im Schneckentempo.
WERNER Ja, sie ist langsam, aber ihre Art der Fortbewegung ist perfekt: Die Schnecke kriecht auf ihrem Bauch. Damit das gelingt, hat sie am vorderen Ende des Körpers eine Schleimdrüse. Sie ist also wie ein Schiff, das sein eigenes Wasser produziert. Und zwar immer genau so viel, wie die Schnecke braucht, um voranzukommen – im Zweifel auch über steile Hindernisse und scharfe Kanten. Sie kann die Qualität des Schleims nach Bedarf verändern. Wenn Schnecken verletzt sind, produzieren sie Schleim mit heilender Qualität, eine Art Reparaturschleim. Wenn sie steile Ebenen hinauf müssen, produzieren sie Schleim, der mehr klebt als in der Ebene. Sie können senkrecht an einer Scheibe hochkriechen, dann wird der Schleim fast schaumig.
Sie begeistern sich für die Schnecke.
WERNER Ja, mich fasziniert auch die Pracht der Gehäuse bei den Bänderschnecken. Die können in allen Farbschattierungen mit bis zu fünf Farbbändern auf dem Gehäuse vorkommen. Das ist eine ungeheure Vielfalt an Schönheit und Symmetrie. Le Corbusier hat sich von der Schnecke nicht nur zu seinem eigenen Strandhaus inspirieren lassen. Es gibt auch Entwürfe für ein „Museum des unbegrenzten Wachstums“sowie ein sogenanntes Welterkenntnismuseum, das „Mundaneum“. Diese Entwürfe beruhen darauf, dass man am Eingang immer weiter bauen könnte – ganz so, wie die Schnecke es tut.
Wie baut die Schnecke ihr Haus genau?
WERNER Sie baut von der Spitze zum Eingang. So lässt sich ihr Haus je nach Größenbedarf erweitern. Es beginnt mit einem winzigen Protoconch, sieht aus wie ein durchsichtiger Stecknadelkopf. Das wird später der Mittelpunkt des Schneckenhauses. Diese Kalkschale wird aus dem Rücken der Schnecke ausgeschwitzt, und dann baut sie ringsherum an. Je größer die Schnecke wird, desto größer wird auch ihr Haus.
Wieso ist Regenwetter meist auch Schneckenwetter?
WERNER Schnecken überwintern in ihrem Gehäuse. Weinbergschnecken zum Beispiel verschließen den Eingang mit einem sogenannten Epiphragma. Wenn es im Frühjahr wärmer und feucht wird, kommen sie wieder zum Vorschein. Wenn es dann länger regnerisch bleibt, begegnen sie natürlich häufiger Artgenossen, paaren sich häufiger und vermehren sich.
Sind Schnecken zu irgendetwas nütze?
WERNER Im Jubiläumsjahr des Philosophen Immanuel Kant möchte ich antworten, dass man Wesen nicht danach bewerten sollte, ob sie zu etwas nützlich sind. Auch die Schnecke ist ein „Zweck an sich“. Aber sie kann, wenn man so will, auch nützliche
Eigenschaften haben, etwa weil sie nicht nur frischen Salat, sondern auch Laub und welke Blätter frisst. Und ihr Schleim soll für die Gesichtshaut sehr gut sein. Deshalb gibt es spezielle Schönheitssalons, wo man sich Schnecken applizieren lassen kann.
Welchen Platz haben Schnecken in der Nahrungskette?
WERNER Natürlich dienen Schnecken anderen Tieren als Nahrung. Laufenten oder Igeln beispielsweise. Es gibt auch Vögel wie Drosseln, die Schnecken aus großer Höhe fallen lassen und sie dann aus dem zerbrochenen Gehäuse picken. Außerdem gibt es kannibalische Schnecken, die ihre Artgenossen fressen. Deswegen schneiden manche Gärtner ja auch die Schnecken durch und lassen sie liegen, damit der Geruch andere Schnecken anlockt, die sie dann auffressen sollen. Ich wäre da skeptisch.
Menschen wollen Schnecken in der Regel vor allem loswerden.
Eine Methode besteht darin, Tigerschnegel anzusiedeln, getigerte Nacktschnecken, die Eier anderer Schnecken fressen. Funktioniert das?
WERNER Ja, angeblich fressen sie die Gelege der spanischen Wegschnecke, die in vielen deutschen Gärten Schaden anrichtet. Und der Tigerschnegel frisst in der Regel nur verwesende Substanzen wie Laub, fällt also selbst nicht über frisch gezogenes Gemüse her. Darum gilt er auch als Nützling – wobei die Unterscheidung von Nützlingen und
Schädlingen eine sehr menschliche Art ist, auf die Tierwelt zu blicken.
Allerdings eine wichtige Unterscheidung für Gärtner. Zur Schneckenabwehr gibt es allerhand Hausmittel: Etwa Barrieren um die Beete zu streuen aus Eier- oder Erdnussschalen, Tabak, Kaffeesatz, verkohltem Holz, oder Beete mit Kupferband einzufassen. Meine Erfahrung: Nützt alles nichts. Kennen Sie ein wirksames Mittel?
WERNER Mein bester Trick: Nichts anbauen, was sie mögen.
Also kein Gemüse?
WERNER Ich habe die Waffen gestreckt und konzentriere mich auf die Beerenzucht. Kürbis und Zucchini gehen auch. So gehe ich dem tragischen Konflikt zwischen Schnecken- und Gartenliebe aus dem Weg.
Was halten Sie von Gift wie Schneckenkorn?
WERNER Würde ich nie und nimmer einsetzen. Wegen des Bodens, und weil daran auch zu viele andere Tierchen zugrunde gehen. Ich habe professionelle Schneckenzüchter besucht in Frankreich und auf der Schwäbischen Alb, die arbeiten mit Schneckenzäunen aus Acrylglas, nach innen gebogen, mit Dornenrand. Das wirkt.
Manche greifen auch zu brutalen Tötungsmethoden: Bierfallen etwa, in denen Schnecken ertrinken. Schnecken werden zerschnitten, mit dem Spaten zerhackt, in Salz gesetzt, gekocht. Bei der Schnecke
scheint der menschliche Sadismus keine Grenzen zu kennen. Da muss die Frage wohl lauten: Empfinden Schnecken Schmerz?
WERNER Natürlich empfinden sie Schmerz. Schnecken haben ja ein Nervensystem, das sieht man, wenn man sie nur kurz am Fühler berührt und sie sich sofort ins Schneckenhaus zurückziehen. Das ist ja sprichwörtlich geworden. Schnecken haben durchaus einen Selbsterhaltungstrieb. Aber natürlich können sie diesen Schmerz nicht in gleicher Weise reflektieren wie ein höher entwickeltes Tier, ein Hund, eine Katze oder ein Schimpanse.
Bierfallen sollen Schnecken sogar aus der ganzen Umgebung anziehen.
WERNER Ja. Und wenn man Schnecken auf andere Weise fängt oder absammelt, ist die Frage, wohin mit ihnen, wenn man sie nicht in Nachbars Garten werfen will.
Wie weit muss man sie denn wegtragen, damit sie nicht zurückkommen?
WERNER Da kenne ich keine genaue Meterzahl. Aber Schnecken bleiben schon auf einem gewissen Territorium, legen ihre Eier an bevorzugte Stellen, etwa, wo es feucht ist. Ich schätze also, dass 50 Meter ein sicherer Radius zum Forttragen wären.
Wie sensibel sind Schnecken ansonsten? Können sie etwa riechen und sehen?
WERNER Jedes Kind malt eine Schnecke mit zwei Fühlern, an deren Enden Augen sitzen. Das ist halb richtig. Es gibt diese Augen, aber Schnecken können damit nur hell und dunkel unterscheiden. Sie sehen also keine scharfen Bilder, aber sie können auf dem Salatblatt erkennen, hier gehts zum Licht, hier zur Erde. Außerdem haben sie noch ein zweites Paar Fühler, das sie etwa in Wasser eintunken können. Damit können sie sehr gut schmecken und riechen, und darüber orientieren sie sich.
Wieso ekeln sich Menschen vor Schnecken? WERNER Schleim ist ekelbesetzt. Das Schleimige erinnert uns an den Urschleim, aus dem wir gekommen sind, und an den indifferenten Zustand, in den wir nach dem Lebensende gehen werden. Das schreckt ab. Im Althochdeutschen war das Wort für Schnecke und für Schleim dasselbe. Die Schnecke war also immer schon die Schleimige.
In England hält das Leute nicht davon ab, einmal im Jahr ein professionelles Schneckenrennen zu veranstalten. Für Ihr Buch sind Sie dort mit einer eigenen Berliner Rennschnecke an den Start gegangen. Mit welchem Erfolg?
WERNER Das Rennen in Congham nahe Cambridge ist das älteste der Welt. Es wird von einem Landwirt geleitet, der sich Snail Master nennt, ein spezielles Kostüm trägt und die Muskulatur seiner Schnecken etwa durch Kriechen an der Senkrechtscheibe trainiert. Gestartet sind 200 Schnecken. Meine hat sich überhaupt nicht fortbewegt. Sie hat sich an der Startlinie mit einer anderen Schnecke gepaart.
Mir scheint, wer seinen Garten liebt, aber nicht zum Sadisten werden will, dem bleibt nur, auch die Schnecke zum Freund zu machen. Oder sehen Sie einen anderen Weg? WERNER Kaum. Es gibt den Spruch: Keep your friends close, but your enemies closer. Man sollte sich also mit Freunden umgeben, seine Feinde aber noch näher im Blick behalten. Das trifft auch auf Schnecken zu.