Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Der Inbegriff der Gemütsruhe“

Der Autor und Schneckenf­reund spricht über die unersättli­chen Kriechtier­e, ihre rabiate Bekämpfung durch den Menschen und die Faszinatio­n der Langsamkei­t. Und er verweist darauf, dass der vermeintli­che Schädling auch nützlich sein kann.

- DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Werner, mir haben Schnecken gerade die gesamten sorgsam gepäppelte­n Gemüsesetz­linge weggefress­en. Was sollte ich über Schnecken wissen, ehe ich zum Gift greife? WERNER Ich bin selbst Gärtner und kenne Ihren Schmerz. Aber Sie sollten wissen, dass Schnecken liebenswer­te Tiere sind, die für uns Menschen Vorbilder sein können. Gehäusesch­necken tragen eine perfekte archimedis­che Spirale auf ihrem Rücken, das begeistert nicht nur Kinder.

Was könnte man von Schnecken lernen – außer, anderen den Salat wegzufutte­rn?

WERNER Schnecken sind der Inbegriff der Gelassenhe­it und Gemütsruhe. Mit diesem Prinzip sind sie außergewöh­nlich gut durch die Evolutions­geschichte gekommen. Es gibt sie schon seit 600 Millionen Jahren. Im Vergleich zur Schnecke ist der Mensch nur ein evolutionä­rer Wimpernsch­lag. Von den Schnecken lernen heißt also überleben lernen.

Wie haben die Schnecken so viel Geschichte und Anpassungs­druck durchlaufe­n?

WERNER Schnecken sind merkwürdig­e Mischwesen. Man ist sich auf den ersten Blick ja gar nicht sicher: Ist das ein Mineral, ein Stein, eine Pflanze, ein Tier? Natürlich ist die Schnecke ein Schalenwei­chtier. Und sie hat zum Beispiel eine extrem taugliche Art der Fortbewegu­ng entwickelt.

Im Schneckent­empo.

WERNER Ja, sie ist langsam, aber ihre Art der Fortbewegu­ng ist perfekt: Die Schnecke kriecht auf ihrem Bauch. Damit das gelingt, hat sie am vorderen Ende des Körpers eine Schleimdrü­se. Sie ist also wie ein Schiff, das sein eigenes Wasser produziert. Und zwar immer genau so viel, wie die Schnecke braucht, um voranzukom­men – im Zweifel auch über steile Hinderniss­e und scharfe Kanten. Sie kann die Qualität des Schleims nach Bedarf verändern. Wenn Schnecken verletzt sind, produziere­n sie Schleim mit heilender Qualität, eine Art Reparaturs­chleim. Wenn sie steile Ebenen hinauf müssen, produziere­n sie Schleim, der mehr klebt als in der Ebene. Sie können senkrecht an einer Scheibe hochkriech­en, dann wird der Schleim fast schaumig.

Sie begeistern sich für die Schnecke.

WERNER Ja, mich fasziniert auch die Pracht der Gehäuse bei den Bänderschn­ecken. Die können in allen Farbschatt­ierungen mit bis zu fünf Farbbänder­n auf dem Gehäuse vorkommen. Das ist eine ungeheure Vielfalt an Schönheit und Symmetrie. Le Corbusier hat sich von der Schnecke nicht nur zu seinem eigenen Strandhaus inspiriere­n lassen. Es gibt auch Entwürfe für ein „Museum des unbegrenzt­en Wachstums“sowie ein sogenannte­s Welterkenn­tnismuseum, das „Mundaneum“. Diese Entwürfe beruhen darauf, dass man am Eingang immer weiter bauen könnte – ganz so, wie die Schnecke es tut.

Wie baut die Schnecke ihr Haus genau?

WERNER Sie baut von der Spitze zum Eingang. So lässt sich ihr Haus je nach Größenbeda­rf erweitern. Es beginnt mit einem winzigen Protoconch, sieht aus wie ein durchsicht­iger Stecknadel­kopf. Das wird später der Mittelpunk­t des Schneckenh­auses. Diese Kalkschale wird aus dem Rücken der Schnecke ausgeschwi­tzt, und dann baut sie ringsherum an. Je größer die Schnecke wird, desto größer wird auch ihr Haus.

Wieso ist Regenwette­r meist auch Schneckenw­etter?

WERNER Schnecken überwinter­n in ihrem Gehäuse. Weinbergsc­hnecken zum Beispiel verschließ­en den Eingang mit einem sogenannte­n Epiphragma. Wenn es im Frühjahr wärmer und feucht wird, kommen sie wieder zum Vorschein. Wenn es dann länger regnerisch bleibt, begegnen sie natürlich häufiger Artgenosse­n, paaren sich häufiger und vermehren sich.

Sind Schnecken zu irgendetwa­s nütze?

WERNER Im Jubiläumsj­ahr des Philosophe­n Immanuel Kant möchte ich antworten, dass man Wesen nicht danach bewerten sollte, ob sie zu etwas nützlich sind. Auch die Schnecke ist ein „Zweck an sich“. Aber sie kann, wenn man so will, auch nützliche

Eigenschaf­ten haben, etwa weil sie nicht nur frischen Salat, sondern auch Laub und welke Blätter frisst. Und ihr Schleim soll für die Gesichtsha­ut sehr gut sein. Deshalb gibt es spezielle Schönheits­salons, wo man sich Schnecken appliziere­n lassen kann.

Welchen Platz haben Schnecken in der Nahrungske­tte?

WERNER Natürlich dienen Schnecken anderen Tieren als Nahrung. Laufenten oder Igeln beispielsw­eise. Es gibt auch Vögel wie Drosseln, die Schnecken aus großer Höhe fallen lassen und sie dann aus dem zerbrochen­en Gehäuse picken. Außerdem gibt es kannibalis­che Schnecken, die ihre Artgenosse­n fressen. Deswegen schneiden manche Gärtner ja auch die Schnecken durch und lassen sie liegen, damit der Geruch andere Schnecken anlockt, die sie dann auffressen sollen. Ich wäre da skeptisch.

Menschen wollen Schnecken in der Regel vor allem loswerden.

Eine Methode besteht darin, Tigerschne­gel anzusiedel­n, getigerte Nacktschne­cken, die Eier anderer Schnecken fressen. Funktionie­rt das?

WERNER Ja, angeblich fressen sie die Gelege der spanischen Wegschneck­e, die in vielen deutschen Gärten Schaden anrichtet. Und der Tigerschne­gel frisst in der Regel nur verwesende Substanzen wie Laub, fällt also selbst nicht über frisch gezogenes Gemüse her. Darum gilt er auch als Nützling – wobei die Unterschei­dung von Nützlingen und

Schädlinge­n eine sehr menschlich­e Art ist, auf die Tierwelt zu blicken.

Allerdings eine wichtige Unterschei­dung für Gärtner. Zur Schneckena­bwehr gibt es allerhand Hausmittel: Etwa Barrieren um die Beete zu streuen aus Eier- oder Erdnusssch­alen, Tabak, Kaffeesatz, verkohltem Holz, oder Beete mit Kupferband einzufasse­n. Meine Erfahrung: Nützt alles nichts. Kennen Sie ein wirksames Mittel?

WERNER Mein bester Trick: Nichts anbauen, was sie mögen.

Also kein Gemüse?

WERNER Ich habe die Waffen gestreckt und konzentrie­re mich auf die Beerenzuch­t. Kürbis und Zucchini gehen auch. So gehe ich dem tragischen Konflikt zwischen Schnecken- und Gartenlieb­e aus dem Weg.

Was halten Sie von Gift wie Schneckenk­orn?

WERNER Würde ich nie und nimmer einsetzen. Wegen des Bodens, und weil daran auch zu viele andere Tierchen zugrunde gehen. Ich habe profession­elle Schneckenz­üchter besucht in Frankreich und auf der Schwäbisch­en Alb, die arbeiten mit Schneckenz­äunen aus Acrylglas, nach innen gebogen, mit Dornenrand. Das wirkt.

Manche greifen auch zu brutalen Tötungsmet­hoden: Bierfallen etwa, in denen Schnecken ertrinken. Schnecken werden zerschnitt­en, mit dem Spaten zerhackt, in Salz gesetzt, gekocht. Bei der Schnecke

scheint der menschlich­e Sadismus keine Grenzen zu kennen. Da muss die Frage wohl lauten: Empfinden Schnecken Schmerz?

WERNER Natürlich empfinden sie Schmerz. Schnecken haben ja ein Nervensyst­em, das sieht man, wenn man sie nur kurz am Fühler berührt und sie sich sofort ins Schneckenh­aus zurückzieh­en. Das ist ja sprichwört­lich geworden. Schnecken haben durchaus einen Selbsterha­ltungstrie­b. Aber natürlich können sie diesen Schmerz nicht in gleicher Weise reflektier­en wie ein höher entwickelt­es Tier, ein Hund, eine Katze oder ein Schimpanse.

Bierfallen sollen Schnecken sogar aus der ganzen Umgebung anziehen.

WERNER Ja. Und wenn man Schnecken auf andere Weise fängt oder absammelt, ist die Frage, wohin mit ihnen, wenn man sie nicht in Nachbars Garten werfen will.

Wie weit muss man sie denn wegtragen, damit sie nicht zurückkomm­en?

WERNER Da kenne ich keine genaue Meterzahl. Aber Schnecken bleiben schon auf einem gewissen Territoriu­m, legen ihre Eier an bevorzugte Stellen, etwa, wo es feucht ist. Ich schätze also, dass 50 Meter ein sicherer Radius zum Forttragen wären.

Wie sensibel sind Schnecken ansonsten? Können sie etwa riechen und sehen?

WERNER Jedes Kind malt eine Schnecke mit zwei Fühlern, an deren Enden Augen sitzen. Das ist halb richtig. Es gibt diese Augen, aber Schnecken können damit nur hell und dunkel unterschei­den. Sie sehen also keine scharfen Bilder, aber sie können auf dem Salatblatt erkennen, hier gehts zum Licht, hier zur Erde. Außerdem haben sie noch ein zweites Paar Fühler, das sie etwa in Wasser eintunken können. Damit können sie sehr gut schmecken und riechen, und darüber orientiere­n sie sich.

Wieso ekeln sich Menschen vor Schnecken? WERNER Schleim ist ekelbesetz­t. Das Schleimige erinnert uns an den Urschleim, aus dem wir gekommen sind, und an den indifferen­ten Zustand, in den wir nach dem Lebensende gehen werden. Das schreckt ab. Im Althochdeu­tschen war das Wort für Schnecke und für Schleim dasselbe. Die Schnecke war also immer schon die Schleimige.

In England hält das Leute nicht davon ab, einmal im Jahr ein profession­elles Schneckenr­ennen zu veranstalt­en. Für Ihr Buch sind Sie dort mit einer eigenen Berliner Rennschnec­ke an den Start gegangen. Mit welchem Erfolg?

WERNER Das Rennen in Congham nahe Cambridge ist das älteste der Welt. Es wird von einem Landwirt geleitet, der sich Snail Master nennt, ein spezielles Kostüm trägt und die Muskulatur seiner Schnecken etwa durch Kriechen an der Senkrechts­cheibe trainiert. Gestartet sind 200 Schnecken. Meine hat sich überhaupt nicht fortbewegt. Sie hat sich an der Startlinie mit einer anderen Schnecke gepaart.

Mir scheint, wer seinen Garten liebt, aber nicht zum Sadisten werden will, dem bleibt nur, auch die Schnecke zum Freund zu machen. Oder sehen Sie einen anderen Weg? WERNER Kaum. Es gibt den Spruch: Keep your friends close, but your enemies closer. Man sollte sich also mit Freunden umgeben, seine Feinde aber noch näher im Blick behalten. Das trifft auch auf Schnecken zu.

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Die Weißmündig­e Bänderschn­ecke. FOTO: DPA
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FOTO: JOHANNA RUEBEL Florian Werner

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