Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Wo das Paradies erfunden wurde
Seit gut 100 Jahren schwärmen Besucher von der „Insel der Götter“, von „Asiens sanfter Seele“oder vom „Morgen der Welt“. Aber hält die touristische Realität dem Mythos vom tropischen Garten Eden noch stand?
Für sechs Millionen Touristen aus aller Welt ist Bali jedes Jahr ein Sehnsuchtsziel. Die meisten Gäste kommen zum Baden, Surfen, Tauchen und für ein, zwei Ausflüge – wie schade. Sie treffen vorwiegend an den Südoststränden von Kuta, Sanur und Seminyak auf ihresgleichen, einerseits Pauschalurlauber aus Europa, andererseits ausgelassenes Jungvolk aus aller Welt. Vor allem für junge Australier sind die Hotspots im Süden von Bali der Ballermann.
Aber dieser konzentrierte Trubel hat einen Vorteil, der an ein Wunder grenzt: Die anderen nämlich, die interessierte Minderheit, stoßen wenige Kilometer hinter der Küste auf das authentische Bali, das Bali der Legenden. Dort leben, allen aktuellen Einflüssen zum Trotz, die Einheimischen wie eh und je im Einklang mit ihren Göttern und Geistern, ihren Ritualen und Regeln. Vor Jahren hat hier der indische Premierminister Nehru den „Morgen der Welt“ausgemacht, eine Oase unverfälschter Harmonie, die sich auch in den traumhaften Kulturlandschaften erkennen lässt.
Wer je in aller Frühe zuschaut, wie Frauen, die Opfergaben auf dem Kopf balancierend, ein Heiligtum gemessenen Schrittes aufsuchen, wer zu Prozessionen und Tempelfesten eingeladen wird – und das geschieht nicht selten – wird rasch eine Ahnung von der besonderen Atmosphäre verspüren. Das ging bereits den Künstlern und Lebenskünstlern so, die in den 1920er- und 1930er-Jahren glaubten, hier das Paradies gefunden zu haben. Und das geht heute noch den Reisenden so, die sensibel und mit offenen Augen und Ohren auf Nebenstraßen durch die Dörfer fahren oder, noch besser, wandern.
Die Bewohner dieser kleinen Insel hängen als einzige im großen, vorwiegend muslimisch geprägten Archipel Indonesien einer besonderen Ausprägung des Hinduismus an. Allerdings sind ihre Götter nur ganz entfernt mit denen aus Indien
verwandt. Hinzu kommt eine magische Welt der Geister und Dämonen, die in Tempeln, auf Bergen und auch im eigenen Haus wohnen. Jeden Tag werden sie liebevoll mit Blumen, Früchten und freundlichen Mantras versorgt. Und jeden Tag wird irgendwo ein spirituell begründetes Fest gefeiert. Respektvolle Besucher sind dabei willkommen.
Leider haben die Müllströme über die Weltmeere auch in dieses Paradies unvorstellbare Mengen an Mikroplastik angeschwemmt. Mit dem Massentourismus, dem Fernsehen
und, noch viel nachhaltiger im negativen Sinne, mit dem Internet haben Kommerz, Wasserund Abfallprobleme auch manche Orte des Hinterlandes verändert. Zentrum allzu betriebsamer „Kultur“, fast ausschließlich auf den Tourismus fokussiert, ist Ubud, im Süden nahe der Hauptstadt Denpasar gelegen. Vor 100 Jahren als Treffpunkt europäischer und einheimischer Künstler entdeckt, zeigt sich der Ort mit seinen vielen Hotels, Restaurants, Bars und Kitschgalerien heute als eine Art exotische Drosselgasse. Am Vulkan Gunung
Agung, dessen riesiger Tempelkomplex Pura Besakih den Balinesen seit eh und je als „Mutter aller Tempel“gilt, verehrt wie kein anderer, ist es in letzter Zeit immer wieder zu unschönen Szenen der Respektlosigkeit gekommen.
Junge Leute fanden es cool, halbnackt auf Steinfiguren zu posieren, die den Einheimischen heilig sind. Der Sonnenuntergang beim Meerestempel Tanah Lot, einst ein Ort stillen Innehaltens, ist zum Massenspektakel verkommen. Zu Leichenverbrennungen, eigentlich ein besonders
würdevolles Zeremoniell, bringen manche Hotels ihre Gäste in großen Gruppen, ohne sie entsprechend vorzubereiten. Reiseführer einer neuen Generation überbieten sich darin, Locations zu nennen, wo man spektakuläre Fotos für Social Media machen kann, wo es gute Smoothies gibt und welche Yogaplattform den schönsten Blick hat.
Und doch lebt das alte Bali, lebt sogar gern mit Besuchern von weither zusammen, nimmt sie für einen Urlaub der besonderen Art in ihren Häusern auf, kleidet sie nach einheimischer
Sitte zu ihren Zeremonien ein, lädt sie zu einem Besuch bei Priestern und Heilern ein, kauft mit ihnen auf Märkten ein, kocht gemeinsam die typischen Gerichte der Insel, erklärt die Tänze und die Klänge der Gamelan-Orchester, beides Szenen der Kontaktaufnahme mit den Göttern. Manchmal genügt aber auch schon ein Spaziergang frühmorgens durch die Reisterrassen, wenn die eben aufgegangene Sonne die gewässerten Felder aufblitzen lässt, sich für den Tag, vielleicht sogar über den Urlaub hinaus verzaubern zu lassen.