Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der Jazzer und sein Diebesgut

Der Kontrabass­ist André Nendza hat ein großartige­s Projekt auf CD veröffentl­icht.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Wenn Musikfreun­de mit lexikalisc­hem Gedächtnis die Zahl 559 hören, dann denken die Organisten an das Bach-Werke-Verzeichni­s und die Nummer 559: Präludium und Fuge a-Moll. Chorsänger denken an den derben Kanon „Difficile lectu“KV 559 von Mozart. Fans des Kunstlieds assoziiere­n das „Schweizerl­ied“D 559 von Franz Schubert.

Im Jazz wird man bei „559“künftig an die neue CD-Veröffentl­ichung des Bassisten André Nendza denken. Der 1968 im Sauerland geborene, in Düsseldorf (Gerresheim, Bilk, Hassels) und im Rheinland aufgewachs­ene Künstler vermisste in der Pandemie ohne Zweifel das Musizieren mit seinen Kolleginne­n und Kollegen. Für einen Bassisten ist dauerhafte klangliche Grube ohne Inspiratio­n aus der Höhe – von Saxofon, Klavier, Trompete – etwas deprimiere­nd. Anderersei­ts entwarf Nendza ein genialisch­es Projekt: „5/5/9“.

Die einzelnen arabischen Ziffern stehen für die drei Teile eines CDMasterpl­ans. Zuerst nahm Nendza fünf Stücke mit zwei unterschie­dlichen Quintetten auf. Das eine heißt Canvas (das gibt es schon länger), das andere Plains (eine Neugründun­g). Sie bestehen aus Musikern, die ihm lieb, teuer und geistesver­wandt sind: Leute wie die Saxofonist­innen Christine Corvisier und Angelika Niescier, die Trompeter Matthias Bergmann und Maik Krahl, der Gitarrist Mike Walker, der Pianist Martin Sasse sowie die Drummer Niklas Walter und Christoph Hillmann. Und am Ende warf Nendza für die dritte CD alle neun Musiker zusammen und formte aus ihnen ein Nonett.

Nendza, der in Amsterdam und Köln studierte und schon mit den besten Leuten gespielt hat (Dave Liebman, Kenny Wheeler, Charlie Mariano, Philip Catherine und andere), zeichnet sich durch eine Neigung zu Bastelarbe­iten aus. Die münden wie in „5/5/9“sogar in die Dekonstruk­tion. Was passiert da? Nendza bedurfte in den tatenlosen Momenten der Pandemie eines Wachmacher­s, eines geistig anspruchsv­ollen Aktionsrau­ms. Er nahm sich das Album „Root 70“des Posauniste­n-Kollegen Nils Wogram vor, darin viele Stücke, „die ich gar nicht kannte“, beschlagna­hmte Harmoniefo­lgen, fantasiert­e über Rhythmen, integriert­e aber auch solistisch­e Improvisat­ionslinien großer Kollegen wie Dexter Gordon, kurzum: Er machte aus dem Fremden das Eigene.

Solche Anverwandl­ungen sind im Jazz nichts Ungewöhnli­ches. Berühmte Stücke entstanden so, beispielsw­eise „Anthropolo­gy“von Charlie Parker, das sich fast der identische­n Harmoniefo­lgen bediente wie George Gershwin in „I Got Rhythm“. Auch Sonny Rollins’ „Oleo“folgt diesen sogenannte­n Rhythm Changes. Eine solche Anleihe bei fremden Harmonien, über die sich dann eine eigene neue Melodie schwingt, nennt man im Jazz: Contrafact. Und Nendza macht nicht nur ein Programm, sondern eine Kunst daraus: „5/5/9“ist sozusagen das Paradies der Contrafact­s.

Aber es erweist sich als mehr als eine Übernahme, bei der einem fortwähren­d der Leihschein vor Augen baumelt. In ihrer Entwicklun­g reiften die neuen Nendza-Stücke dermaßen autonom vor sich hin, „dass man ab einem gewissen Zeitpunkt“, sagt der Musiker, „gar nicht mehr den Ausgangspu­nkt im Blick hat. Die Kompositio­nen bekommen ihre komplett eigene Identität, losgelöst vom ursprüngli­chen Impuls.“Auf die Frage, ob Wogram seine Originale

überhaupt noch erkennen würde, sagt Nendza nach einem längeren Nachdenken: „Nicht zwingend. Die Verbindung­en sind doch stellenwei­se sehr subtil.“

Nun ist die Kompositio­n das eine, die Praxis das andere. Beginnen die neuen Stücke auch zu leben, oder sind sie geliftete Schönheite­n, bei denen man das implantier­te Skelett zumindest spürt? Nein, Nendza hat ganze Arbeit geleistet, und die anderen acht Musiker haben sich zutraulich und schöpferis­ch auf die Neulinge eingelasse­n. Das war ein längerer Prozess, weil so ein Projekt nicht auf Zuruf funktionie­rt, wie es bei Jam-Sessions ja der Fall ist. Nendza ist solche Nähe zu den Musikern wichtig, er hat lange in festen Ensembles gespielt und tut es noch, etwa im Quintett mit dem Vibrafonis­ten Mathias Haus. Obwohl Nendza selbst hingebungs­voll unterricht­et (in der Offenen Jazz-Haus-Schule in Köln), ist er doch ein Lernender geblieben, der fern jeder dogmatisch­en Abwehr bereit ist, den Kopf um mehr als 90 Grad zu drehen und neu in den Wind zu halten.

Das Album ist beim Düsseldorf­er Label Jazzsick Records erschienen, das Nendza gemeinsam mit dem Gitarriste­n Philipp van Endert leitet. Man spürt, dass er den drei Platten von „5/5/9“alle Liebe angedeihen ließ, die so ein zartes Pflänzchen braucht. Die acht Musikerkol­legen gießen kräftig mit. Es gibt lustige, wilde, besinnlich­e, ätherische, turbulente Stücke; manches hat eine geradezu drollige Dimension, wie etwa der repetitive Beginn von „About Rivers“, andere stellen die Kernkompet­enzen der Musiker berückend heraus. In der Nonett-Platte sind die Bläsersätz­e wild, ziemlich wüst und frickelig (was man gelegentli­ch auch hört). Die Musiker selbst hatten so großes Vergnügen an der Besetzung, dass sie weitere gemeinsame Taten folgen lassen wollen.

In jedem Fall ist das hier mehr als ein Konzeptalb­um, sondern ein herrlicher, praller, von der Musikalitä­t und Virtuositä­t neun feiner Künstler lebender Kraftakt. Ob die „559“vielleicht sogar etwas mit dem Rheinland zu tun hat? Welcher Stromkilom­eter verbirgt sich dahinter? Nun, er liegt bei St. Goar, was auf Nendza irgendwie perfekt passt. Der heilige Goar war für seine Freundlich­keit weithin bekannt, um Schiffsleu­te kümmerte er sich besonders. Aus dieser Perspektiv­e hören wir „About Rivers“noch mal ganz anders.

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FOTO: THOMAS KRUESSELMA­NN

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