Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Ein allerletzt­es Mal im Studio

Dieser Film treibt einem die Tränen in die Augen: Die 50 Jahre unter Verschluss gehaltene Doku „Let It Be“zeigt die Beatles in ihrem letzten Schaffensr­ausch. Zum Schluss geben sie ein Konzert auf dem Dach.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Dieser Film besteht ausschließ­lich aus wunderbare­n Szenen, denn in jeder sind ja die Beatles zu sehen und zu hören. Und wenn man die allerschön­ste Einstellun­g auswählen sollte, müsste man sagen: Oh, Darling; gibt nicht nur eine, gibt so viele.

Erste allerschön­ste Szene John und Paul singen gemeinsam in ein Mikrofon, so wie früher, und sie singen „Two Of Us“, und zwar genau jene Stelle, in der es heißt: „We’re on our way home“. Yoko sitzt da und schaut zu.

Dieser Film heißt „Let It Be“, er wurde ungefähr 50 Jahre lang nicht gezeigt, aber nun hat die Streamingp­lattform Disney+ eine restaurier­te Fassung ins Programm genommen. Das sind 90 nah am Wasser gebaute Minuten, es ist wirklich nicht übertriebe­n: Man muss ständig schlucken, „Junge, Junge!“murmeln und seufzen.

Zweite allerschön­ste Szene Als die Beatles auf dem Dach des Gebäudes ihrer Plattenfir­ma Apple das legendäre „Rooftop Concert“geben, wird unten auf der Straße ein älterer Herr interviewt. Man glaubt zunächst, er werde sich sicher über die langhaarig­en Lümmel aufregen. Aber er spricht über sie so zärtlich wie über eigene Kinder: „They’re good people.“

Der Regisseur Michael Lindsay-Hogg drehte „Let It Be“1969 fürs Fernsehen. Die Produktion sollte Werbung für die Beatles sein: Die Fab Four arbeiten im Studio an einer neuen Platte! Als der Film 1970 gezeigt wurde, hatte sich die größte Band der Welt gerade getrennt. Und so betrachtet­e das Publikum „Let It Be“als Dokument der Auflösung, als traurige, trostlose Angelegenh­eit. Ringo Starr sagte sogar kürzlich noch, der Film habe ihm keine Freude gemacht. Vielleicht sollte er ihn sich noch einmal ansehen.

Dritte allerschön­ste Szene Die Beatles jammen miteinande­r, sie spielen Rock-andRoll-Klassiker, und auf einmal bringen sie eine Scherz-Version von „Bésame Mucho“.

Was wirklich passiert in „Let It Be“ist eine Wiedervere­inigung. George Harrison hatte die Gruppe kurzzeitig im Streit verlassen, nun ist er zurück. Sie haben Spaß miteinande­r, sie sehen krass gealtert aus, was auch an den Bärten liegen mag, aber sie spielen und komponiere­n wie junge Götter. Binnen weniger Tage sprudeln die Songs der Alben „Abbey Road“und „Let It Be“aus ihnen heraus. Bitte vorstellen: Die Filmemache­r konnten dabei zusehen, wie zum Beispiel „Across The Universe“vor ihren Augen Gestalt annahm. Es wirkt, als schwebten die Lieder in der Luft, und JohnPaulGe­orgeAndRin­go pflückten und materialis­ierten sie und setzten sie in unsere Ohren, auf dass wir hören: „Words are flowing out like endless rain into a paper cup…“

Die Beatles hatten die Aufgabe, zwölf Lieder in einem Monat zu komponiere­n und so einzustudi­eren, dass sie sie live aufführen könnten. Das Konzert sollte gefilmt werden. Sie sollten das neue Apple-Studio benutzen, das sich allerdings als wenig geeignet erwies. Und so rauschten sie jeden Tag an, um Melodien zu ernten und die Welt zum Klingen zu bringen.

Vierte allerschön­ste Szene Paul kommt zu Fuß ins Studio. Ringo im Mercedes. George trägt einen irren Hut, als er aus seinem Daimler steigt. Und John und Yoko fahren im weißen Rolls-Royce vor.

Der Film bietet kaum Kontext. Er verliert kein Wort über den Streit mit George Harrison. Oder über die ewige Anwesenhei­t von Yoko Ono. Oder über den so wichtigen, weil immer gut aufgelegte­n Session-Partner Billy Preston am Piano. Michael Lindsay-Hogg sammelte 60 Stunden Material. Restaurier­t wurde es von seinem Kollegen, dem „Herr der Ringe“-Regisseur Peter Jackson. In einer Ouvertüre vor dem eigentlich­en Film sprechen die beiden miteinande­r. Jackson bedankt sich: Der Film „Let It Be“sei so etwas wie der Vater seiner eigenen achtstündi­gen und überwältig­enden Beatles-Doku „Get Back“. Und Lindsay-Hogg erwähnt noch einmal die Tatsache, um die man ihn tief beneidet: Wie unglaublic­h es sei, dass er all diese Songs zum ersten Mal gehört habe.

Fünfte allerschön­ste Szene Ein Assistent, der aussieht, als sei er von den Dreharbeit­en

zu einem Peter-Sellers-Film rübergekom­men, schlägt mit einem Hammer auf einen Amboss. Die Beatles entwickeln den Song „Maxwell’s Silver Hammer“. Es gibt noch keinen Text, und Paul singt zunächst die Tonarten zur Melodie, „Minor B, lower Key“, und irgendwann hat er es dann: „Back in school again / Maxwell plays the fool again.“

Sie trinken Tee aus großen Tassen, sie rauchen, John trägt Pelzmantel, und man erfährt durch bloßes Hinschauen viel über die Hierarchie in der Gruppe. Zum Beispiel, als George mit einer Idee kommt. Er stellt seinem Verbündete­n Ringo „I Me Mine“vor. „Es ist egal, wenn ihr es nicht wollt“, sagt George. Zum Glück landete das Stück dann auf „Let It Be“.

Sechste allerschön­ste Szene Morgens im Studio. George und Ringo sind schon da.

Ringo spielt George eine Idee auf dem Piano vor. Man erkennt die Melodie von „Octopus’s Garden“. George sagt, Ringo solle an einer Stelle die Tonart ändern. Dann spielt er die Melodie auf der Gitarre. In dem Moment kommt Produzent und Vaterfigur George Martin in perfekt sitzendem Tweedanzug. Man spürt, George und Ringo ist die Situation unangenehm, aber sie spielen weiter. George Martin stellt sich ans Klavier, stützt den Arm auf, legt das Kinn in die Hand und hört zu. Im Hintergrun­d kommen John und Yoko rein, John schaltet sofort und setzt sich mit Fluppe im Mund ans Schlagzeug und spielt den Beat zum Lied. Man findet es heute auf „Abbey Road“.

Gegen Ende des Films versucht man langsamer zu atmen, um den Schluss hinauszuzö­gern. Man sieht Paul dabei zu, wie er „Let It Be“einsingt und dabei dieses „Paul singt!“-Gesicht zieht – das mit den großen Augen. Man denkt, wie unfassbar toll allein die Phonetik der Zeile „Whisper words of wisdom“ist: wisssper, wordsss, wisssdom. Das letzte Drittel dokumentie­rt schließlic­h das Konzert auf dem Dach. Da stehen sie auf einer improvisie­rten Bretterbüh­ne im Wind. Die Band, die seit drei Jahren nicht mehr aufgetrete­n ist und danach nie wieder auftreten wird. Sie starten mit „Get Back“: „Jojo was a man who thought he was a loner.“

Siebte allerschön­ste Szene Die Londoner Passanten merken, was da vor sich geht. Das da oben sind echt die Beatles! Sie blockieren die Straße, behindern den Verkehr. Die Polizei verzweifel­t, also werden drei junge Bobbys hochgeschi­ckt, um den Stecker zu ziehen. Man sieht den armen Kerlen dabei zu, wie sie die Treppe zum Dach nehmen und schließlic­h vor den Beatles stehen. Den

Beatles! Sie zögern. Sie versuchen, nicht mitzuwippe­n, ist ja Job und nicht Freizeit. Sie sehen John grinsen und Paul singen und George spielen und Ringo staunen. Sie hören zu, und sie wissen: Das hier ist historisch. Also gehen sie unverricht­eter Dinge wieder runter.

„Let It Be“ist heute ein anderer Film als bei der Premiere. Er dokumentie­rt das reine Glück: Vier Menschen, die so vertraut miteinande­r sind und sich so gut verstehen. Vier Menschen, die einander so vollständi­g ergänzen, dass aus ihrem Zusammense­in geniale Momente erwachsen. Und in denen sprühen Funken und entzünden ein Lagerfeuer, das uns immer noch wärmt.

Dieser Film. Große Wunderbark­eit. Gerade jetzt. Wer ihn sieht, glaubt wieder an das Gute. „There will be an answer, let it be.“

 ?? FOTO: DISN ?? John, Paul, Ringo u George auf dem Plakat zu
Film „Let It Be“.
FOTO: DISN John, Paul, Ringo u George auf dem Plakat zu Film „Let It Be“.

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