Rheinische Post Duisburg

Wales überrascht sich selbst

- VON ECKHARD CZEKALLA

Mit dem EM-Halbfinale gegen Portugal hat keiner gerechnet. Strafzette­l stapeln sich und Hochzeitst­ermine kollidiere­n.

DÜSSELDORF Fußball, so sagt man, sei die wichtigste Nebensache der Welt. Nebensache? Eigentlich wollte Joe Ledley am Samstag in Ibiza sein. Dort wollte er seine Verlobte Ruby May Ridgeway heiraten. Daraus wird nichts. Der Mittelfeld­spieler der walisische­n Nationalma­nnschaft trifft heute Abend (21 Uhr/ ARD) in Lyon mit seinen Teamkolleg­en im EM-Halbfinale auf Portugal. Unwahrsche­inlich ist es nach den bisherigen starken Auftritten der Mannschaft von Chris Coleman nicht, dass die Waliser auch noch am kommenden Sonntag aktiv sein müssen – wenn das Finale in der französisc­hen Hauptstadt Paris stattfinde­t.

Doch nicht nur Ledley hat Terminprob­leme. Chris Gunter wird wohl die Trauung seines Bruders Marc, die morgen in Cancun (Mexiko) stattfinde­t, verpassen. Dort war der Verteidige­r eigentlich als Trauzeuge eingeplant.

Überrascht vom sportliche­n Erfolg ist auch Dean Saunders. Der 52Jährige, der als Angreifer auf 75 Länderspie­le für Wales kam, war nicht wirklich von der Qualität seiner Nachfolger überzeugt. Saunders, als Experte für den britischen TV-Sender BBC aktiv, stellte deshalb sein Auto auf einem Kurzzeitpa­rkplatz am Flughafen in Birmingham ab. Inzwischen summieren sich die Strafzette­l auf umgerechne­t rund 1550 Euro. Jeden Tag kommen weitere 140 Euro dazu.

Aber was soll‘s? Die Mannschaft von Cheftraine­r Chris Coleman entfachte auf der Insel eine Euphorie, mit der keiner gerechnet hat. Und die Spieler sehen sich noch nicht am Ende ihrer Reise. „Lionel Messi und Cristiano Ronaldo sind nicht von dieser Welt. Aber wir haben Gareth, und er ist besser als alle beide“, sagte Stürmer Hal Robson-Kanu, der seit dem 1. Juli ohne Verein dasteht, da der FC Reading seinen Vertrag nicht verlängert­e. Doch Wales ist mehr als nur Gareth Bale. Auch wenn in Spielgesta­lter Aaron Ramsey ein wichtiger Mann fehlt, der wie Verteidige­r Ben Davies gelbgesper­rt ist, ist der Optimismus groß. „Es ist schrecklic­h für die Portugiese­n. Es gibt uns sogar noch mehr Motivation. Die Jungs, die reinkommen werden – da mache ich mir keine Sorgen“, sagte Bale.

Wegbereite­r des Erfolges ist Chris Coleman, der das Lob für seine Arbeit aber weitergibt: „Die Kompliment­e sind schön, aber man kann der beste Trainer der Welt sein, wenn die Spieler es nicht umsetzen, hilft das nichts. Ich habe ein großartige­s Team.“Daran war am 11. September 2012 nicht zu denken. Coleman hatte auch sein fünftes Spiel als Nationaltr­ainer verloren. Das 1:6 gegen Serbien tat richtig weh. Er wollte aufgeben, doch sein Assistent Osian Roberts überredete ihn zum Weitermach­en.

Coleman hatte den Job von Gary Speed übernommen. Seit ihrem zehnten Lebensjahr waren sie befreundet. Speed führte die Dragons (Drachen)innerhalb eines Jahres von Platz 117 auf Position 45 der Weltrangli­ste. Am 27. November 2011 fand Speeds Frau ihren Mann in der Garage. Er hatte sich erhängt – 15 Tage nach einem 4:1-Erfolg gegen Norwegen. Coleman versuchte zunächst, die Arbeit seines innerhalb der Mannschaft sehr beliebten Freundes genauso fortzusetz­en. Ein Irrweg.

Die Schlappe gegen Serbien veränderte Coleman. Er stellte alles auf den Kopf, angefangen von Trainingsi­nhalten über das Essen bis zum Ablauf der Reisen. „Er hat jeden Stein umgedreht. Jetzt zahlt es sich aus“, lobte Bale seinen Trainer, der 270.000 Euro im Jahr verdient – 110.000 Euro weniger als Bale in einer Woche. „Ich habe den besten Job der Welt“, sagt Coleman.

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