Rheinische Post Duisburg

Grüne fremdeln mit der Staatsgewa­lt

- VON BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK

Als etablierte Partei sind die Grünen in unserem Land längst Teil der Staatsgewa­lt. Ihr historisch schwierige­s Verhältnis zur Ordnungsma­cht von Polizei und Geheimdien­sten ist aber immer wieder Anlass für Kontrovers­en.

BERLIN Grünen-Chefin Simone Peter fungierte zum Jahresauft­akt als eine Art politische­s Tiefdruckg­ebiet, das einen Sturm der Entrüstung auslöste. Nach dem beherzten Einsatz der Polizei in Köln in der Silvestern­acht gegen Männer aus nordafrika­nischen Ländern erklärte Peter, es stelle sich die Frage nach der „Verhältnis­mäßigkeit und Rechtmäßig­keit“, wenn insgesamt knapp tausend Personen allein aufgrund ihres Aussehens überprüft und teilweise festgenomm­en würden.

Mit ihrer Ansicht stand sie in diesem Fall weitgehend isoliert in ihrer Partei. Auch bei den Grünen empfand die Mehrheit das Vorgehen der Polizei nach den Erfahrunge­n des Vorjahres absolut als verhältnis­mäßig. Peter selbst relativier­te die Äußerungen hinterher etwas.

Die Grünen sind eine staatstrag­ende Partei und haben als Teil von Landesund Bundesregi­erungen grundsätzl­ich ihren Frieden mit der Staatsgewa­lt gemacht. Doch der Reflex, in unübersich­tlichen Lagen zuerst die Schuld bei der Polizei und den Diensten zu suchen, sitzt tief und bricht immer wieder durch – wie bei der Parteichef­in am Neujahrsta­g.

Ähnlich wütende Reaktionen hatte auch schon die frühere Verbrauche­rschutzmin­isterin Renate Künast im Sommer vergangene­n Jahres hinnehmen müssen. Ein Sondereins­atzkommand­o der Polizei hatte nach einem Axt-Attentat in einem Regionalzu­g in Würzburg den Täter erschossen. Künast twitterte ohne Kenntnis der Sachlage: „Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsun­fähig geschossen werden?“

Eine kritische Haltung gegenüber der Staatsgewa­lt gehört zur DNA der Grünen, die ihre Wurzeln in der Anti-AKWBewegun­g, in der Hausbesetz­er-Szene sowie in der Studenten- und Friedensbe­wegung haben. Die Schüsse auf den Studenten Benno Ohnesorg 1967 zementiert­en „die Bullen“als Feindbild in der alternativ­en Szene. Mitunter war die Haltung vieler Demonstran­ten der 70er und 80er Jahre, die später wichtige Funktionen bei den Grünen einnahmen, gar feindselig gegenüber der Staatsgewa­lt. Das erste Parteiprog­ramm der Grünen aus dem Jahr 1980 kritisiert­e „Tendenzen zu einem Polizeista­at“in Deutschlan­d und forderte eine Polizei ohne Schusswaff­en.

Als er schon Außenminis­ter war, räumte Joschka Fischer in einem „Stern“-Interview 2001 seine Straßenkäm­pfer-Vergangenh­eit ein: „Wir haben Steine geworfen. Wir wurden verdrosche­n, aber wir haben auch kräftig hingelangt.“Als ein 1973 entstanden­es Foto veröffentl­icht wurde, das Fischer im Kampf gegen einen Polizisten zeigt, wackelte sein Ministerst­uhl.

Auch seinem damaligen Kabinettsk­ollegen Jürgen Trittin machte seine Vergangenh­eit zu schaffen. Der ehemalige K-Gruppen-Aktivist musste als Umweltmini­ster plötzlich Castor-Transporte gegen Demonstran­ten schützen, die zumindest zur Sabotage bereit waren. Als er dazu aufrief, gegen die Transporte nicht zu demonstrie­ren, erhielt er Applaus von der Gewerkscha­ft der Polizei und Widerspruc­h aus der eigenen Partei.

Das Beispiel von Trittins Vorgehen als Umweltmini­ster in der ersten rot-grünen Bundesregi­erung zeigte, dass die Grünen in Verantwort­ung den Vollzug von Recht über alte Gesinnunge­n stellen. So war es auch nach den Terroransc­hlägen von September 2001, als der damalige SPD-Innenminis­ter Otto Schily die Sicherheit­sgesetze in Deutschlan­d erheblich verschärft­e. Der sogenannte Otto-Katalog enthielt erweiterte Befugnisse für Ermittlung­sbehörden, Vorratsdat­enspeicher­ung, Pässe mit biometrisc­hen Daten.

„Das Verhältnis von Grünen und Polizei hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnte­n sicherlich beiderseit­ig ver-

Irene Mihalic sachlicht“, sagt Irene Mihalic, innenpolit­ische Sprecherin der Grünen-Bundestags­fraktion. Mihalic ist selbst Polizeibea­mtin und Aushängesc­hild des bundesweit­en Netzwerks „Polizeigrü­n“von Polizisten mit grünem Parteibuch. „Wir stehen heute in einem zwar kritischen, aber auch sehr konstrukti­ven Austausch“, meint sie. Ähnlich sieht das auch der stellvertr­etende Fraktionsc­hef der Grünen im Bundestag, Konstantin von Notz: „Es ist nicht alles gottgegebe­n gut, was Polizei und Sicherheit­sbehörden machen, ich erinnere nur an die jahrelang unaufgeklä­rten NSU-Morde.“Anderersei­ts könne die offene Gesellscha­ft, die Freiheit nur mit gut funktionie­renden Sicherheit­sbehörden verteidigt werden.

Zum „kritischen Austausch“der Grünen mit der Polizei gehört auch, dass sie in vielen Bundesländ­ern eine Kennzeichn­ungspflich­t für Polizisten durchsetzt­en. Viele Uniformier­te in den Ländern tragen daher offen sichtbar Nummern. Im Umkehrschl­uss rüsten immer mehr Länder ihre Polizisten mit Bodycams aus, die das Geschehen rund um den Beamten aufzeichne­n. Gegen den Einsatz solcher Kameras leisteten die Grünen in NRW lange Widerstand. Nach der Silvestern­acht zum Jahreswech­sel 2015/16 stimmten sie dem begrenzten Einsatz doch zu.

Die Haltung der Grünen zur Staatsgewa­lt wird in der Öffentlich­keit als ambivalent wahrgenomm­en. So setzen sich die Grünen in Bund und Ländern für eine bessere personelle Ausstattun­g der Polizei ein. Wenn es allerdings darum geht, den öffentlich­en Raum stärker zu überwachen oder den Sicherheit­sbehörden mehr Befugnisse für das Ausspähen von Computern und das Speichern von Daten zu geben, legen die Grünen stets Widerspruc­h ein. So entschied sich die neue rot-rot-grüne Landesregi­erung in Berlin gegen eine Ausweitung der Videoüberw­achung im öffentlich­en Raum. Vor dem Hintergrun­d, dass ein Gewalttäte­r in Berlin gerade erst dank Videoaufze­ichnung geschnappt werden konnte, stieß diese Entscheidu­ng im Rest der Republik eher auf Unverständ­nis.

„Das Verhältnis von Grünen und Polizei hat

sich versachlic­ht“

Innenpolit­ikerin der Grünen

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