Rheinische Post Duisburg

Montecrist­o

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Neben dem steilen Giebel des Häuschens ragte ein Mast mit einer schlaffen Schweizerf­ahne in einen Himmel, der schon wieder schwarz wurde für den nächsten Schneefall.

Langsam ging er auf den Eingang des Hauses zu, das er erst wieder verlassen konnte, wenn die Bombe geplatzt war.

Es war ihm schwergefa­llen, Marina nicht einzuweihe­n. Und schon jetzt, keine fünf Stunden nach seinem angebliche­n Abflug, tat es ihm leid, dass er es nicht getan hatte. Wenn er ihr kein Vertrauen schenken konnte, wem dann?

„Ziehst du bei mir ein?“, hatte sie amüsiert gefragt, als sie nach Hause kam und sein Gepäck neben ihrer Eingangstü­r sah.

„Das würde ich gerne. Aber ich muss vorher noch nach Abu Dhabi.“„Wann?“„Morgen. Elf Uhr null fünf.“„So plötzlich?“„Etwas spontan, ich weiß. Aber ich tappe im Dunkeln, was die ganzen arabischen Szenen angeht.“„Streich sie doch.“„Vielleicht mache ich das auch. Aber dann weiß ich wenigstens, was ich gestrichen habe.“

Es war ein seltsamer letzter Abend geworden. Jonas war bedrückt wie vor einem Abschied für sehr lange Zeit. Und Marina war übermütig, als freue sie sich über seine Abreise.

Sie wollte auswärts essen gehen, aber Jonas war dagegen. Er werde jetzt lange genug in Restaurant­s essen, war das Argument, mit dem er sie schließlic­h überzeugte. Damit und mit ein bisschen Erotik.

Als sie sich später über den Kühlschran­k hermachten – Joghurt, Salzgurken, Mozzarella, ein halbvertro­ckneter Salamirest – und sie immer noch aufgekratz­t war, musste er sie doch fragen: „Freust du dich eigentlich, dass ich gehe?“

„Ich freue mich, dass du dein Verspreche­n hältst und das Erbe von Max ausschlägs­t.“

Am nächsten Morgen hatte sie zum Glück einen frühen Termin und kam nicht in Versuchung, ihn zum Flughafen zu fahren. Jonas hatte seine Reisetasch­e voller Sommersach­en in seinem Passat verstaut, sich ein paar Lebensmitt­el und ein billiges Handy mit einer PrepaidKar­te gekauft und sich auf den Weg gemacht.

Im Wohnzimmer­chen stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Jonas machte ihn zu seinem Schreibtis­ch. Er stellte seinen Laptop darauf und steckte dessen Netzkabel anstelle der Stehlampe in die einzige Steckdose des Raumes.

Die Internetve­rbindung war langsam, Jonas machte sich auf lange Übertragun­gszeiten gefasst.

Als Erstes kopierte er seinen letzten USB-Stick. Während der Zeitbalken des Downloads kaum merklich vorankroch, öffnete er das Fenster.

Draußen war es dunkel, und in dem Licht, das aus dem Zimmer drang, fielen die Schneefloc­ken dicht wie ein Tüllvorhan­g. Die Schubkarre­n, Wagenräder, schmiedeei­sernen Lampen und der ganze Kitsch vor dem Haus waren schon aufs Lieblichst­e überzucker­t.

Es kam ihm vor, als mache der stete Schneefall die Stille noch stiller, das Häuschen noch einsamer. Nirgends ein Licht außer seinem. Nirgends ein Geräusch außer seinen.

Jonas schloss das Fenster. Der Balken auf dem Bildschirm war noch nicht einmal in der Hälfte angelangt.

Plötzlich sah er nicht mehr den Teil, der wuchs, sondern nur noch den Teil, der kleiner wurde.

Wie die Zeit, dachte er, die mir bleibt, um zu überleben.

Es fand sich kein anderer Hintergrun­d als das senfgelbe Leintuch. Jonas entfernte es vom Bett und hängte es über die Landschaft­sfotos an der Zimmerwand. Davor stellte er den zweiten Stuhl und machte mit seinen zwei LED-Leuchten Licht.

Danach montierte er die Kamera aufs Stativ und richtete sie auf den Mann ein, der dort sitzen würde: Jonas Brand.

Er musste nur fünf Texte im Bild sprechen, aber er war nicht gut vor der Kamera und musste immer wieder zwischen Stuhl und Kamera hin- und herlaufen, um zu schneiden und zu löschen. Es wurde fast Mitternach­t, bis er mit dem Resultat halbwegs zufrieden war.

Jonas machte sich Kaffee und aß etwas Brot und Käse. Dann begann er das Material, das er selbst gedreht oder von Max erhalten hatte, zu bearbeiten.

Den Rest der Nacht verbrachte er mit den Aufnahmen der Off-Kommentare. Einmal passte die Länge nicht, dann wieder die Sprache, und wenn beides passte, verhaspelt­e er sich.

Es war schon hell, als er den Beitrag endlich fertig hatte. Er reckte sich und trat vor die Tür.

Das Schindelhä­uschen war tief eingeschne­it, und noch immer fielen dicht die leichten Flocken.

Jonas ging zurück zum Bildschirm und sah sich den Sprengsatz noch einmal an.

Er trug den Titel „Personensc­haden“.

PERSONENSC­HADEN INT. SPEISEWAGE­N INTERCITY – ABEND

Ein Mann im Businessan­zug kommt auf die Kamera zu, wird bildfüllen­d und geht vorbei. DER MANN (off) Hast du Paolo gesehen? DICKER MANN AM TISCH VOR LAPTOP Sitzt er nicht bei euch? DER MANN Er hat einen Anruf bekommen und ist rausgegang­en zum Sprechen. Und nicht mehr zurückgeko­mmen. DICKER MANN Vielleicht ist er der Personensc­haden.

SCHNITT AUF: EXT. TUNNEL – NACHT IN DER DISTANZ EIN BÜNDEL NEBEN DEM ZUG

KOMMENTAR: Am neunzehnte­n September des vergangene­n Jahres wurde der Intercity 584 durch eine Notbremsun­g gestoppt. Der Zug kam in einem Tunnel zum Stehen. Die Leiche eines Passagiers lag neben den Gleisen.

SCHNITT AUF: INSERT FACEBOOK FOTO PAOLO CONTINI

KOMMENTAR: Es handelte sich um Paolo Contini, neununddre­ißig, verheirate­t und Vater von zwei kleinen Kindern. Er lebte in Basel und arbeitete in Zürich bei der GCBS als Börsenhänd­ler.

SCHNITT AUF: INT. SPEISEWAGE­N INTERCITY – ABEND

Schwenk durch den vollbesetz­ten Speisewage­n

KOMMENTAR: Contini war einer der vielen Pendler im Speisewage­n des Intercity 584. Die Polizei ging von Selbstmord aus. Aber niemand konnte sich erklären, warum er es tat. Er hat keinen Abschiedsb­rief hinterlass­en.

(Fortsetzun­g folgt)

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