„Du solltest dich schämen, Europa!“
Die türkische Presse reagiert empört auf das Vorgehen der Niederlande gegen türkische Politiker. Verbreitet ist etwa die Lesart, hinter den Absagen der Ministerauftritte stünden wirtschaftliche und machtpolitische Interessen.
ISTANBUL Wie zu erwarten, beherrscht das schroffe Vorgehen der Niederlande gegen türkische Minister die Schlagzeilen am Bosporus und eint die Kommentatoren hinter der Landesfahne. In den regierungsnahen Zeitungen aber brechen sich Enttäuschung und Zorn über die Europäische Union und ihren Umgang mit dem Nato-Partner besonders ruppig Bahn. Vor allem die Ausweisung der Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya aus den Niederlanden empört die Blätter. Ihre Schlagzeilen schreien „Skandal!“, „Schande!“oder „Faschisten!“. „Milliyet“titelt: „Du solltest dich schämen, Europa!“Als mögliche Reaktion listet die Zeitung eine Einschränkung der geheimdienstlichen Zusammenarbeit oder die Sperrung des türkischen Luftraums für niederländische Militärund VIP-Flugzeuge auf.
Verbreitet ist die Lesart, hinter den Absagen der Ministerauftritte stünden wirtschaftliche und machtpolitische Interessen. Der Erdogan-Berater Ilnur Çevik wirft den Europäern in einem verschwörungstheoretischen Artikel in der regierungsnahen „Sabah“blanken Neid vor: „Offensichtlich ist eine von Deutschland angeführte Länderkoalition extrem unglücklich über die Tatsache, dass die Türkei unter der Führung des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ein aufsteigender Stern wurde. Um sie einzudämmen, versuchten sie alles Mögliche inklusive eines Putsches, doch das schlug fehl. Deshalb probieren sie jetzt, das Nein-Votum im bevorstehenden Referendum (über die Einführung des exekutiven Präsidialsystems) zu unterstützen und türkische Kabinettsminister daran zu hindern, zu Türken in Europa zu sprechen.“
Ibrahim Karagül, Chefredakteur der islamistischen „Yeni Safak“und ein berüchtigter Erdogan-treuer Scharfmacher, bezeichnet die Krise als „Rache Europas“für den Putschversuch vom Juli 2016: „Sie greifen an, weil sie unser Land nicht mit Panzern und Kanonen auf die Knie zwingen, weil sie es nicht in einen Bürgerkrieg hineinziehen, weil sie seine große Transformation nicht stoppen konnten, weil sie die Stärke der Türkei spüren.“Die Rolle des „Auftragsmörders“falle den Niederlanden zu. „Das ist der erste offene Sieg der faschistischen Welle, die beginnt, Europa als Geisel zu nehmen. In jener Nacht wurden die Niederlande der erste offiziell faschistische Staat des 21. Jahrhunderts.“
Mehrere regierungsnahe Kolumnisten erkennen einen Zusammenhang der Krise mit dem Aufstieg der europäischen Rechtsextremisten und zunehmender Islamophobie in Europa; die EU sehen sie dem Untergang geweiht. „Wenn die Gesellschaft mit fremdenfeindlichen Argumenten dazu gebracht wird, Muslime zu hassen, werden sie am Ende alle ‚anderen‘ hassen, mehr Beschränkungen, mehr Mauern und mehr Protektionismus fordern“, schreibt die Kolumnistin Merve Sebnem Oruç in der „Sabah“.
Der Vernunft eine Stimme gibt der bekannte liberale „Hürriyet“Kolumnist Taha Akyol, der vor den möglichen wirtschaftlichen Folgen einer eskalierenden Krise mit Den Haag warnt. Er erinnert an das nicht unbeträchtliche Handelsvolumen von sechs Milliarden Dollar mit den Niederlanden und schreibt: „Die Spannungen sollten beigelegt werden, bevor sie auf andere Länder übergreifen.“
Die wenigen noch existierenden Oppositionsblätter kritisieren zwar die europäische Haltung, werfen der eigenen Regierung aber auch Heuchelei vor, da diese die Opposition im Referendumswahlkampf ebenfalls mit Auftrittsverboten überziehe. Die linke „Cumhuriyet“bezeichnet die Krise als Ergebnis von Wahlkampfmanövern beider Seiten. Familienministerin Kaya sei trotz Warnungen und obwohl Wahlkampf im Ausland gesetzlich verboten sei, in die Niederlande gereist und habe sie dadurch erst provoziert.