Die Diamanten von Nizza
Eine Stunde verging, bevor sie zum Ausgangspunkt, der vorderen Eingangstür, zurückkehrten. Ettore Castellaci hatte ihnen mit Interesse, aber ohne Kommentar zugesehen, bis Sam sein Notizbuch einsteckte.
„Aha“, sagte er. „Haben Sie genug gesehen? Wie geht es jetzt weiter?“
Sam lächelte. „Mit gründlichen Überlegungen und ein paar Recherchen. Ihr Safe verfügt über ein konventionelles Alarmsystem. Leider hält sich ein professioneller Dieb bei seiner Arbeit nicht an konventionelle Regeln. Wer immer Sie ausgeraubt haben mag – derjenige hat sich eingehend mit allen Sicherheitssystemen befasst, die sich derzeit auf dem Markt befinden, und einen Weg entdeckt, sie zu umgehen. Sie sagten, Ihr Sicherheitssystem wurde vor vier Jahren installiert, richtig?“Signor Castellaci nickte. „Nun, bedauerlicherweise unterliegt die Technologie in vier Jahren einem beträchtlichen Wandel, und es kommt hinzu, dass ein professioneller Dieb der Sicherheitstechnik gewöhnlich einen Schritt voraus ist. Er weiß genau, dass nur sehr wenige Leute ihr Alarmsystem jedes Jahr überprüfen und auf den neuesten Stand bringen lassen. Wie war das bei Ihnen?“„Nun, wir wollten ja, aber . . .“„Das kenne ich“, sagte Sam. „Solange es keine offensichtlichen Probleme gibt, kümmern sich die Leute nicht darum. Lassen Sie mich erklären, woran ich gerade gemeinsam mit einem Unternehmen in Kalifornien arbeite. Es handelt sich um ein Gerät, das nicht größer ist als eine Zigarettenschachtel und Sie mit Ihrem Alarmsystem vernetzt, wenn Sie sich außer Haus befinden. Die kleinste Störung im System aktiviert das Gerät; dann ertönt ein Summer in Ihrer Jackenoder Handtasche, und Sie können umgehend die Polizei anrufen. Mit ein wenig Glück ertappen sie den Dieb auf frischer Tat.“
„Merkt er denn nicht, dass er einen Alarm ausgelöst hat?“
Sam schüttelte den Kopf. „Der einzige Mensch, der etwas bemerkt, sind Sie. Es mag nicht die ultimative Lösung sein, aber sie hilft, und unsere Leute in Kalifornien sind gerade dabei, sie zu perfektionieren. Das Gerät sollte um die Weihnachtszeit verfügbar sein.“
„Sam, ich bin beeindruckt“, sagte Elena. „Wie bist du nur auf diese Idee gekommen?“Sie hatten in einem Café Zwischenstation gemacht, nicht weit vom Anwesen der Castellacis entfernt.
„Wie alle Künstler, die etwas taugen“, sagte er in gespielter Eitelkeit, „weiß ich selbst nicht so recht, woraus ich meine Inspirationen beziehe. Vielleicht ist es die Meeresluft, der gute Wein. Und dann ist mir auch eingefallen, wie Dick Tracy früher in meinen Lieblingscomics sich in solchen Situationen verhalten hat.“
Warum zum Teufel fängt jetzt auch schon Ettore Castellaci an, sich von diesen Versicherungsleuten ausquetschen zu lassen, dachte Jacques Pigeat, als er sich in der Altstadt in einer Bar an einem Tischchen niederließ und einen Pastis bestellte. Genau schien die Signora auch nicht Bescheid zu wissen. Sie hatte nur geraunt, dass einer von dieser Knox Insurance, die die Schadensbegleichung immer weiter hinauszögere, vorbeikäme, um ein neues Safe-Sicherheitssystem vorzustellen, und das wollte der Signore allein mit dem Mann bereden. Die Signora hatte nicht widerspro- chen und war zu einer ihre wenigen Freundinnen in Nizza zum Café verabredet, und ihm, Jacques, war bedeutet worden, sich doch einen Nachmittag und Abend freizunehmen. Dieser Aufforderung hatte er gern Folge geleistet. Er war sich sicher, dass dieser Besuch der Versicherung nur ein Vorwand, ein Trick war. Sie würden jetzt auch den Hausherrn noch mal ausquetschen, so wie die Morales ihn, Jacques, in die Mangel genommen hatte. Im letzten Moment fiel ihm ein, dass die Morales ja durchaus mit von der Partie sein und in Versuchung kommen könnte, sein Zimmer mal während seiner Abwesenheit auszuspionieren. Er hatte alles, was einen ungünstigen Eindruck hinterlassen konnte, in ein Kellerverließ geräumt und die Tür abgeschlossen.
Ein junger Kellner brachte ihm das Getränk. Nach einer Weile kam auch der Inhaber; in dessen unterer Gesichtshälfte ein wilder ergrauter Bart wucherte, und begrüßte ihn wie einen Veteranen, der nach langen Jahren aus dem Krieg zurückgekehrt war. Tatsächlich war Jacques Pigeat hier früher Stammgast gewesen, hatte jede freie Minute an der Theke dort drüben verbracht, aber seit er der Geliebte der Signora geworden war, mied er dieses Terrain. Warum eigentlich? Wenn er sich umsah, die Blicke der Männer in den Lederjacken und der Frauen mit den sonnengebleichten Haaren und den engen, knalligen T-Shirts auffing, fühlte er sich hier wohler als im Salon der Castellacis unter den Managern. In den Anisschwaden, die in der Luft hingen, lag nach all den Jahren immer noch eine Vertrautheit, die ihm gefehlt hatte.
Was würde diese Morales machen, jetzt, da sie wusste, dass sein Alibi löchrig war? Das Warten war unerträglich. Er hatte die letzten beiden Tage jeden Augenblick mit Polizeibesuch gerechnet. Auch die Signora war nervös, hatte ihn nicht mehr in seiner Klause aufgesucht.
Warum hatte er nicht einfach die Wahrheit sagen dürfen, so banal und simpel, wie sie auch war? Er hatte am Abend jenes 4. Mai oben in seiner Dachkammer auf dem Bett gelegen, er hatte nicht die Livree getragen, sondern seinen dunklen, abgetragenen Anzug. Er hatte die oberen Knöpfe geöffnet und in L’Equipe den Rugby-Teil gelesen und feststellen müssen, dass sein Lieblingsclub RRC Nice am Sonntag wieder verloren hatte. Er war darüber so entsetzt gewesen, dass er zu dem weißen Pulver griff und sich eine Linie reinzog. Der Rausch war heftiger als sonst, aber danach fühlte er sich elend, zum Heulen, wie ein kleines Kind. Hilflos lag er auf dem Bett, in voller Kleidung und dämmerte weg. Als er aufwachte, schwitzte er und meinte, unten im Haus ein Geräusch zu hören. Er schaute auf die Uhr. Um halb zehn konnten die Castellacis unmöglich schon aus der Oper in Marseille zurückgekehrt sein. Hatte die Inszenierung sie so sehr entsetzt, dass sie schon nach dem ersten Akt aufgebrochen waren? Das war eigentlich noch nie passiert, auch wenn Ettore sich des Öfteren über diesen „modischen Krimkrams“der Dekorateure und „die bizarren Einfälle der Regisseure“aufregte, wozu die Signora nur spöttisch das Gesicht verzog. Dann war Stille eingekehrt. Jacques haderte mit sich selbst. Was war das für ein Kokain gewesen, das man ihm diesmal angedreht hatte?