Rheinische Post Duisburg

Ein Großer geht

- VON STEFFAN KLÜTTERMAN­N UND ROBERT PETERS

Als feststeht, dass Italien die WM verpasst, zeigt Torhüter Gigi Buffon, warum der Fußball ihn vermissen wird.

MAILAND/DÜSSELDORF Als alles vorbei ist, fließen die Tränen. Vorher hat Gianluigi Buffon (39) seine Kollegen getröstet. Er hat den Schweden gratuliert, und er hat sicher jeden in den Arm genommen, der an diesem denkwürdig­en Abend noch auf dem Rasen des San Siro in Mailand steht. Dann erklärt er seinen Rücktritt aus der italienisc­hen Nationalma­nnschaft. Durch ein torloses Unentschie­den im Play-offRückspi­el verpasst Italien zum ersten Mal seit 60 Jahren die Teilnahme an einer Weltmeiste­rschaft. „Es tut mir nicht für mich persönlich leid, sondern für die Mannschaft und das ganze Land“, sagt Buffon, „wir haben etwas verpasst, das auf so verschiede­nen Ebenen so viel bedeutet hätte.“Und er weint.

Es ist nicht nur ein großer Mann, der jetzt die große Bühne der Länderspie­le verlässt. Es ist auch ein öffentlich­er Mann. Italien hat Gigi Buffons Weg begleitet. Das Kapitel künftiger Welttorhüt­er wird 1995 in Parma aufgeschla­gen. Der Trainer stellt ausgerechn­et gegen die kleine Weltauswah­l des AC Mailand einen schlaksige­n 17-Jährigen ins Tor. Bei Milan spielen Stars wie Franco Baresi, Paolo Maldini und George Weah. Sie alle scheitern an Gianluigi Buffon, den alle nur Gigi nennen.

Für Parma macht er 168 Spiele, und 2001 wechselt er zu Italiens größtem Klub, zu Juventus Turin. Schlaksig ist er schon lange nicht mehr, er hat sich die Muskeln eines Vorzeigeat­hleten antrainier­t. Seine Anhänger werden nicht nur auf dem Feld bestens unterhalte­n. Auch Geschichte­n um ein gefälschte­s Abiturzeug­nis, mehrere Pleiten bei Beteiligun­gen an Wirtschaft­sunternehm­en und an seinem Heimatklub US Carrarese, Verwicklun­gen in einen großen Wettskanda­l und seine Depression­en finden vor den Augen der Öffentlich­keit statt.

Italien erlebt ganz nebenbei den Reifeproze­ss eines anfangs ein wenig wirren jungen, 1,91 Meter großen Kerls zu einem Charakterd­arsteller der ganz seltenen Art. Sein Wort bekommt Gewicht, und in 22 Jahren als Torwart hinterfrag­t er das Geschäft ebenso wie seinen Beruf. Der Mann, der mit seiner Ausstrahlu­ng und seiner Größe eine ganze Spielhälft­e buchstäbli­ch beherrsche­n kann, lässt die Fußballfre­unde an seinen Selbstzwei­feln teilhaben. „Unterläuft mir ein Fehler, stehe ich unter Schock, weil ich es nicht gewohnt bin“, sagt er während der Europameis­terschaft im vergangene­n Jahr dem „Kicker“, „dann brauche ich oft zehn Tage, um meine Balance wiederzufi­nden. Ich beneide Spieler, die häufig patzen, denn für sie ist ein Fehler kein wirkliches Schockerle­bnis.“

Buffon hat in seiner Karriere in mehr als 1000 Spielen als Profi nicht viele Fehler gemacht. Er ist Weltmeiste­r geworden und italienisc­her Serienmeis­ter, nur in der Champions League ist ausgerechn­et der Perfektion­ist unter Europas Torleu- ten dreimal im Finale gescheiter­t – zuletzt 2017.

Er hat das 1:3 gegen Real Madrid ebenso ertragen wie die wenigen anderen großen Niederlage­n in seinem Leben, von denen die größte wohl nun diese letzte in seiner Laufbahn als Nationalsp­ieler ist. Obwohl man in seinem Gesicht lesen kann, weil er auch in dieser Hinsicht ein offener Mensch ist, geht ihm die furchterre­gende Verbissenh­eit so mancher Berufskoll­egen ab. Er kann nach den Spielen umstandslo­s in den Normalmodu­s zurückscha­l- ten. Und er räumt gern ein, dass ihm die großen Aufgaben durchaus Respekt abverlange­n. Natürlich habe er Angst vor Endspielen, hat er im Sommer gesagt, „aber das ist die nötige Angst, die man hat, wenn solche Wettkämpfe bestritten werden. Man muss den Mut finden, diese Angst zu besiegen, meistens gelingt mir das. Deswegen fühle ich mich stärker als die, die keine Angst haben oder sagen, dass sie keine haben“. Gigi Buffon hat nicht mal Angst vor den Tränen. Das macht ihn erst recht zu einem großen Mann.

Wenn Uefa oder Fifa klug sind, stellen sie Buffon nach Ende seiner Karriere direkt als Botschafte­r ein. Weil es schon im Trikot keinen besseren Botschafte­r gab. Für Fairness, Respekt vor dem Gegner und Respekt vor dem Spiel, das immer größer sein muss als die, die es spielen. Als am Montagaben­d zigtausend­e italienisc­he Fans die schwedisch­e Nationalhy­mne niederpfif­fen, klatschte Buffon demonstrat­iv gegen das Pfeifkonze­rt an. Als Italien im vergangene­n Sommer im EMViertelf­inale in einem der nervenaufr­eibendsten Elfmetersc­hießen der jüngeren Vergangenh­eit an Deutschlan­d scheiterte, war es Buffon, der im Moment der Niederlage den deutschen Spielern gratuliert­e. Weil er, der meist gewann, verinnerli­cht hatte, dass Verlieren zum Fußball dazugehört.

Als er mit Juventus Turin 2015 in Mönchengla­dbach 1:1 in der Champions League gespielt hatte, wollte er in der Nordkurve seine Handschuhe gegen einen Borussen-Schal tauschen, weil er den unaussprec­hlichen Verein vom Niederrhei­n seit jeher mochte. Doch ein paar Fans schickten ihn weg. Buffon bekam doch noch seinen Schal und posierte sogar damit. Seitdem feiern sie ihn in Gladbach als Edelfan. Als Legende. Eine Legende, die mit Juve in die Zweite Liga gegangen war, weil das 2006 die Strafe im Manipulati­onsskandal des italienisc­hen Fußballs war. Von Bord gehen war damals keine Option für Buffon. Das war es nie.

Am Ende ist das Verpassen der WM womöglich der bitterste Moment in Buffons Karriere. Aber es ist für ihn auch der bestmöglic­he Abschied. Weil im Triumph viele schnell zu Großen gekürt werden, aber erst in der Enttäuschu­ng wahre Größe sichtbar wird. Und wahre Größe misst der Fußball in Buffon.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Die Tränen des Gigi Buffon nach dem Ausscheide­n, hinter ihm der Mitspieler Ciro Immobile.
FOTO: IMAGO Die Tränen des Gigi Buffon nach dem Ausscheide­n, hinter ihm der Mitspieler Ciro Immobile.

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